Der legendäre Safari-Club: Sex als Entertainment

von: Michael Fuchs-Gamböck

Wenn Marko aus Brasilien sich vier oder fünf Mal pro Nacht zwischen die weit gespreizten Schenkel von Ines aus Litauen drängt, so handelt es sich bei diesem Akt zwar um Sex im schnödesten Sinne. Eigentlich aber geht es um Entertainment, gar um Kunst. Marko mag sein äußerst stolz erigiertes Gemächt (noch dazu mit einem lächerlich aussehenden Präservativ versehen) in das Geschlecht von Ines rammen, von einem derben, lustlosen Fick mag man an dieser Stelle allerdings nicht sprechen. Nein, was Ines und Marko an sechs Nächten die Woche zwischen 20 und 4 Uhr im stoischen Zwei-Stunden-Takt miteinander auf der Bühne an Aktivität absolvieren, ist pure Unterhaltung. Wenn auch Unterhaltung mit steifem Schwanz und feuchter Muschi, wie der Pornograph es bezeichnen würde. Marko und Ines sind „Schauspieler“ im „Club Safari“, zu Hause in der Großen Freiheit 24 und damit in Hamburg-St. Pauli, also auf dem „Kiez“, Deutschlands ältester „sündiger Meile“. Marko und Ines bieten – zusammen mit rund zehn anderen Kolleginnen und Kollegen, die häufig wechseln - „adult entertainment“, demnach „Live-Sex-Show“. Und die beiden sind somit Mitstreiter eines Clubs, der auf St. Pauli seinesgleichen sucht, den es so nicht mehr gibt und in Zukunft auch nicht mehr geben wird.


Denn: das alte St. Pauli ist tot! Wer heute etwas von dem Geist erleben möchte, der den Stadtteil in den 50er und 60er Jahren weltbekannt machte, der muss ziemlich lange suchen. Um ehrlich zu sein, jener Geist weht nur noch durch das dämmerige, plüschige Ambiente des „Safari“, gelegen auf der schon von Hans Albers legendär besungenen „Großen Freiheit“. Eisern umzingelt von hippen Table-Dance-Clubs, In-Bars, Fast-Food-Restaurants und Spielhöllen, stemmt sich das „Erotik-Theater“ – so die beinahe schon grimmige Selbstbezeichnung - wie ein kleines gallisches Dorf tapfer gegen den Fast-Food-Zeitgeist. Damals, es war am 1. April 1964, als Henning Schneidereit die Schifffahrt aufgab, um den „Laden“ zu eröffnen, da waren Sex, Striptease und nackte Haut, zu bestaunen auf einer schmuddeligen Bühne, wie eine Lizenz zum Gelddrucken. Das Programm in den Anfangstagen bestand in den Gründertagen aus nichts als einem Teppich und einem nackten Pärchen.

„Das genügte, die Leute haben einem die Bude eingerannt“, erinnert sich der inzwischen 80-jährige Schneidereit voller Wehmut. „Der Champagner floss zu dieser Zeit in Strömen und wir schwammen im Geld“. Heute, exakt 45 Jahre später, liegen die Dinge ziemlich anders. Alles, was es auf dem „Kiez“ zu sehen gibt, kann man sich auch im Fernsehen, im Kino, auf Video oder im Internet anschauen. Doch Schneidereit wehrt sich selbstbewusst: „Diesen Second-Hand-Quatsch und unser Etablissement kann man doch überhaupt nicht miteinander vergleichen“, lacht er mit entschlossenem Knurren in der Stimme, „schließlich leben wir im „Safari“ von der Atmosphäre, vom Augenblick. Wer jemals ein Theaterstück oder einen Musiker live auf einer Bühne erlebt hat, der weiß, wovon ich rede.“

Fleiß, Geschäftssinn und Qualität waren stets die Säulen seines Ladens – neben Scheidereits exzellenter Boxtechnik und seinem nach wie vor vorhandenem rauem Charme natürlich. „Es liegt an mir und meiner Person“, behauptet der alte Kapitän selbstbewußt, „dass das „Safari“ alle Krisen überstanden hat und auch in Zukunft weiter sein Programm durchziehen wird“. Jenes Programm inszeniert aber nicht der Chef, sondern sein Choreograph und Geschäftsführer Jeff Pierron, ein gebürtiger Franzose. Der erlernte sein Handwerk bis Ende der Siebzieger schräg gegenüber des „Safari“ im legendären „Salambo“. Sein Lehrmeister war René Durand, jahrelang Liebling der Hamburger Klatschpresse und schillernder Vogel in einer Person.

Ein Mann, ebenfalls aus Paris wie Pierron stammend, den selbst die St. Paulianer für exzentrisch hielten – was in diesem exzentrischen Stadtviertel etwas zu bedeuten hat. Die beiden Franzosen inszenierten auf einer riesigen Bühne die Massenszenen und Orgien, für die das „Salambo“ berühmt-berüchtigt war. Auf deren Bühne ging es pornographisch, laut, obszön und provokant zu. „Wild eben“, wie Pierron heute mit einem gemächlichen Achselzucken erklärt. Eines Tages stand Henning Schneidereit vor Pierron, verdoppelte dessen Gage und nahm den bekennenden Homosexuellen gleich mit zu sich in den Club. Das „Salambo“ ist mittlerweile Geschichte – das „Safari“ jedoch ist Kult. Jeff Pierron, ein Mann um die 50 („mehr will ich zu meinem Alter nicht verraten“, grinst er schnippisch - tatsächlich ist er Jahrgang 1951), ist mit ganzem Herzen Künstler. Für ihn ist jede Show ein Theaterstück, das er akribisch mit seinen Darstellern einstudiert. Geprobt wird täglich und er verlangt von allen Mitarbeitern Disziplin, Engagement, Konzentration und Professionalität.

Dass all seine Bemühungen auf die Darstellungen von Sex hinauslaufen, ist ihm völlig gleichgültig – „c’ est la vie“, wiegelt er lediglich ab. Für ihn müssen ausschließlich das Playback und die Musik stimmen, Choreografie und Bühnenpräsenz seiner Darsteller gehen ihm über alles. So können in seiner Version vom Erfolgs-Musical „Tanz der Vampire“ leicht fünfzehn Minuten vergehen, bis die Darsteller – derzeit Marko und Ines - „zur Sache“ kommen. Während oben auf der Bühne getanzt, gestrippt, und geliebt wird, herrscht unten in den Garderoben das fröhlich- ausgelassene Chaos eines Klassenausfluges. In den engen Umkleidekabinen dort wird deutsch, bulgarisch, russisch, englisch und portugiesisch gesprochen. Ständig ist jemand unterwegs und verteilt die bestellten Pizzen und Hamburger. Es wird viel geredet und gekichert. Dauernd klingelt irgendein Handy, muss eine SMS beantwortet werden. Fotos von Stars, Models, von Freunden und den Familien, kleben hinter den Spiegeln.

„Manchmal komme ich mir vor wie ein Herbergsvater“, lacht Pierron, der sich auch um Zahnarzttermine, Schlüsseldienste, Einschreiben und Monatskarten kümmert, Streitigkeiten schlichtet, jeden tröstet und dauernd eines der Kostüme repariert. „Es ist wichtig, dass sich die Mädchen wohl fühlen. Geht es denen gut, ist die Show gut. So einfach ist das.“ Die meisten Darstellerinnen sind erst Anfang Zwanzig. Sie sprechen schlechtes Deutsch, haben manchmal Heimweh, müssen irgendwo wohnen und brauchen jemanden, der sich um sie kümmert. Einige haben schon nach einer Woche Sprachkurse belegt und nehmen Tanzunterricht. Andere sitzen den ganzen Tag vor der Glotze und essen Pizza.

„Letzteres ist nicht gut für die Figur und erst recht nicht gut für die Nerven“, lacht Pierron. „Manchmal kann ich die Girls dazu überreden, etwas zu unternehmen. Manchmal nicht. Wenn sie dann ein paar Kilo zugelegt haben, frage ich arglos: „Sag mal, hast du zugenommen?“.“ Jetzt grinst Jeff: „ Das klappt immer“, meint er, „die Mädchen wollen schließlich gut aussehen, das Tanzen und Schauspielen wertet ihre Arbeit auf, gibt ihnen Selbstvertrauen. Und ich bin sehr froh, wenn sie einen festen Freund haben, das stabilisiert.“ Jeff macht sich viele Gedanken und sorgt sich um „seine“ Girls. Eines wird er aber wohl nie verstehen: Warum viele der Darstellerinnen furchtbar nervös und unsicher sind, wenn sie bekleidet eine Szene spielen, während sie keine Probleme haben, sich nackt und breitbeinig dem Publikum zu präsentieren. „Das ist ein Phänomen“ staunt er, „das passiert sehr oft. Deswegen ist es wichtig, den Mädchen mit viel Applaus Mut zu machen, wenn sie mit einer neuen Show auftreten.“ Dann herrscht immer große Aufregung und alle müssen sich stets gegenseitig bestätigen, wie toll es gelaufen ist und wie gut sie ausgesehen haben.

Bei den Männern wie Marko wird von vornherein weniger Wert auf schauspielerische Leistungen gelegt, obwohl sie diese durchaus vorzuweisen haben. Eine Erektion, auf die sich alle Beteiligten vier bis fünf Mal am Abend verlassen können, ist im „Safari“ endgültiges Einstellungskriterium. Diejenigen, die sich die Gage aufbessern wollen, arbeiten zwischen ihren Auftritten als Bühnenarbeiter. Die Kolleginnen haben es da einfacher: Werden sie von den Gästen zum Sekt eingeladen, sind sie am Umsatz beteiligt. Manchmal wird aus Sekt Liebe und einer der Zuschauer heiratet seine Lieblingsdarstellerin. „Das ist schon einige Male passiert“, strahlt Pierron. „Das ist romantisch – sehr romantisch sogar.“ Pierron lebt für sein Theater, den Tanz, die Musik und „seine Mädchen und seine Jungs“. So gelingt es ihm jeden Abend, ein  schillerndes Programm auf die Bühne zu bringen, irgendwo zwischen „Ohnsorg-Theater“ und Hardcore - verrucht, laut, fröhlich und sexy.

Pierron macht alles für „den Laden“: Er ist Chereograph, Psychologe, Chef vom Dienst. Sogar Schauspieler bei einigen Szenen. Während wir uns nach oben in den Trakt begeben, indem die Kulissen in mörderischer Fahrt schräg nach unten geschickt werden, wo die Darsteller ihrem Geschäft nachgehen und Jeff versucht, einen Rammel-Laden in einen Sex-Musical-Shop zu verwandeln, grinst Ines mir zu: „Geh mit Jeff rauf und sieh mir beim Ficken zu. Da kannst du dir deine Lieblingsstellung aussuchen und alles bestens beobachten.“ Jeff sendet „von oben“  professionell die Kulissen nach unten. Und Marko hat seine Erektionen, wie gewünscht. Spätestens nach sechzig Sekunden Blowjob von Ines ist der Brasilianer bereit und macht seine Show, körperlich wie schauspielerisch perfekt. „Je weniger ich vom Text verstehe“, bekennt der Brasilianer, „desto mehr kann ich mich auf meinen Schwanz konzentrieren. Die Arbeit im „Safari“ ist ein Job. Ich ejakuliere niemals in Ines. Romantischen Sex hab ich immer erst am nächsten Morgen, wenn ich mit meiner Ehefrau schlafe.“

Tatsächlich sind Ines und Marko in vollem Einsatz, da geht es nicht um Orgasmus oder die scharfe Nummer, während sie auf der Bühne des „Safari“ zur Sache kommen. Die beiden bewegen zum Playback der Musical-Nummern ihren Mund, sie kennen jeden einzelnen Ablauf der Szenen – und Marko muss noch dazu im richtigen Moment einen Steifen bekommen. Für Ines ist es weniger problematisch, feucht zu werden: „Dafür gibt es Flutschi, das hilft immer“, lacht sie verschmitzt. Weder für Ines noch für Marko noch für all die anderen Mitstreiter des „Safari-Club“ ist es ein Problem, „adult entertainment“ Abend für Abend auf der schmalen Bühne zu präsentieren. „Wir sind Schauspieler, letztendlich“, bekennt Todor, der gut bestückte Akteur aus Bulgarien. „Klar wissen wir, dass wir Sex-Shows für das Publikum liefern. Doch letztendlich reden wir uns ein, dass wir pures Entertainment servieren. Und wer weiß, vielleicht liefern wir ja die beste Show der Welt? Denn schließlich leisten wir vollen Einsatz. Mehr kann man von Schauspielern eigentlich nicht verlangen...“

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