Reportagen / ROCK AUS CHILE - MUSIK IN ZEITEN DER POST-DIKTATUR

von: MICHAEL FUCHS-GAMBÖCK
(spanische Interviews: Liliana Margarita Isusqui-Moreyra)

Es war der 11. September, an dem wieder einmal ein neues Zeitalter in einem Land begann. Wieder einmal war es der 11. September, der die jüngste Geschichte der Menschheit negativ verändert hat. Allerdings sprechen wir an dieser Stelle nicht von den USA und deren post-traumatischen Depressionen, welche diese Großmacht bis heute im Würgegriff halten, seit am 11.9.2001 zwei von moslemischen Terroristen gekaperte Boeings in die beiden Türme des World Trade Centers von New York krachten und dadurch ein Blutbad sowie Angst und nachhaltigen Schrecken verbreiteten. Nein, wir sprechen an dieser Stelle vom 11.9.1973, seit dem im südamerikanischen Staat Chile nichts mehr so ist, wie es war. Einem Land, das bis dato - zumindest für lateinamerikanische Verhältnisse - auf eine lange demokratische Tradition zurückblicken durfte.

Wir erinnern uns: Am 11. September 1973 bombardieren Kampfjets den altehrwürdigen Palast "Moneda" des drei Jahre zuvor mit 36 % der Stimmen demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende Gossens in Chiles Hauptstadt Santiago. Allende wurde am selben Tag entmachtet und beging - ebenfalls am selben Tag - Selbstmord. Fortan übernahm die Militärjunta die Macht in der aus rund 15 Millionen Einwohnern bestehenden Nation, General Augusto Pinochet wurde zum neuen Präsidenten des südamerikanischen Staates ausgerufen. Ein Job, den er 17 quälend lange Jahre innehaben sollte.

Gleich nach seiner Amtsübernahme ging Pinochet mit großer Härte gegen die bisherige Regierung und ihre Unterstützer vor. Die Folge waren Menschenrechtsverletzungen jeglicher Art von Seiten der Armee sowie der Polizei, rund 80.000 Chilenen wurden getötet oder verschwanden spurlos, die genaue Zahl lässt sich bis heute nicht exakt ermitteln. Während der gesamten Herrschaftszeit von Pinochet wurden Oppositionelle oder vermutete Oppositionelle - selbst Kinder waren darunter - verschleppt, gefoltert und ermordet. Sogar ein Volksheld wie der linke Liedermacher Victor Jara wurde am Abend des berühmt-berüchtigten 11.9.1973 von der Polizei festgenommen und gequält, man brach ihm zu guter Letzt die Hände, damit er nicht mehr Gitarre spielen konnte, um ihn am fünften Tag nach seiner Arrestierung brutal zusammenzuschlagen und schließlich mit einem Maschinengewehr zu exekutieren.

Ein Mord, sinnbildlich für den Stellenwert der Kunst - speziell der Musik -, den Chile fortan "genießen" durfte. "Das System Pinochet", sagt der Musiker Rodrigo Cepeda und spricht noch heute mit stockender Stimme darüber, "war für Künstler der blanke Horror. Ich erinnere mich etwa daran, dass in den späten 1980ern vor meinen Augen ein Straßenmusiker von der Polizei zunächst verprügelt und schließlich erschossen wurde - nur auf Grund der Tatsache, dass er Musik gemacht hatte", erzählt der 1969 geborene Mastermind der Formation Subhira. Und fährt fort: "Kein Wunder, dass meine Familie Angst hatte und mich umstimmen wollte, als ich 1989 eine Rock-Band gründete und beschloss, von der Musik zu leben. Schließlich war mein Vater als politischer Gefangener mehrere Jahre im Knast gesessen, mein großer Bruder für vier Jahre ins europäische Exil ausgewandert, um Repressalien durch den Staat zu entgehen. Doch ich war trotzig und bereit, unter allen Umständen eine künstlerische Laufbahn einzuschlagen", bekennt Cepeda, "mich hätte nichts davon abgehalten."

Rodrigo hatte Glück mit seinem Trotz, denn am 11.3.1990 wurde General Pinochet im Präsidentenamt von dem - relativ - liberalen Kandidaten Patricio Aylwin abgelöst. Gemäß der von ihm selbst maßgeschneiderten Verfassung blieb Pinochet allerdings Senator auf Lebenszeit und zudem Chef der Streitkräfte. Erst im September dieses Jahres zog Chile einen Schlussstrich unter seine blutige Vergangenheit und schaffte unter dem jetzigen Präsidenten Ricardo Lagos die letzten Privilegien der alten Diktatur ab, der am 25. November 90 Jahre alt werdende Pinochet allerdings geht bis heute straffrei aus.

Dennoch, gerade für Künstler brachen ab 1990 hoffnungsvolle Zeiten im Land der Anden an, Kreativität war plötzlich nicht mehr mit Lebensgefahr verbunden, sondern damit, sich in der Öffentlichkeit weitgehend frei zum Ausdruck bringen zu können. Die Bewegung "Nueva Cancion" (= "neues Lied") in der Tradition Victor Jaras begann, ihre Arbeit, die 1973 jäh unterbrochen worden war, wieder aufzunehmen.

Das Besondere an dem noch jungen Pop- und Rock-Sound Chiles ist, im Vergleich zu der Musik anderer Länder Süd- und Lateinamerikas, dass sie absolut eigenständig daher kommt. "In der aktuellen Musik meines Landes", schwärmt die 33jährige Sängerin Sol Aravena alias Muza, eine der talentiertesten weiblichen Stimmen des modernen Chile, "verschmelzen unzählige Stile, von der traditionellen Folklore über Música popular, Klassik, Tango, Bolero bis zum Jazz und selbstverständlich auch Rock."

Im Falle Chiles verbinden gerade ältere Solidaritätsbewegte auf der ganzen Welt die Musik gerne mit Gruppen wie Inti Illimani oder der Liedermacherin Violeta Parra und natürlich mit dem nach wie vor populären Victor Jara. Doch das musikalische Spektrum des Landes ist inzwischen wesentlich breiter und abwechslungsreicher geworden. Da gibt es mystische Folk-Sängerinnen wie Muza, Singer/Songwriterinnen wie Francesca Ancarola, Blues-orientierte Musiker wie Emilio Garcia, psychedelisch angehauchte Experimentierer wie die Formation Subhira und viele aufregende Künstler mehr. Der chilenische Rock - inzwischen eine der wichtigsten Szenen des Landes - ist allerdings im Rest der Welt nach wie vor beinahe völlig unbekannt.

Diesen Status Quo zumindest in Deutschland zu ändern, hat sich der Berliner Chef der Firma "Be1Two", Jimi Wunderlich, vorgenommen. Er bietet weltweit kleinen Plattenlabels an, international in Vertriebe zu kommen und mit ihren Produktionen vor allem in Deutschland Fuß zu fassen. Im Fall "Chile" gehen bei Wunderlich kommerzielle Interessen und die Leidenschaft für das "Produkt" allerdings Hand in Hand: "Als Bürger der ehemaligen DDR", erzählt er, "habe ich mich mit chilenischer Musik, vor allem mit dem linken Volkshelden Victor Jara, schon lange beschäftigt, der war auch in Ostdeutschland ein Begriff. Jara fand ich immer schon großartig, selbst wenn ich kein stalinistischer Betonkopf aus dem Osten bin. Der Typ war einfach überzeugend!

Außerdem wurde mir in den letzten Jahren klar, dass chilenische Musik etwas absolut Besonderes ist. Sie ist nicht so rhythmisch wie etwa brasilianischer oder kubanischer Sound, dafür ist sie melodie-orientierter und auch melancholischer, was meinem eigenen Naturell sehr entgegen kommt. Das liegt wohl am Volk und der Lage des Landes. Chile ist ja durch das Anden-Gebirge von seinen Nachbarn weitgehend abgetrennt. So etwas prägt die Kultur einer Nation."

Jimi Wunderlich kam im Januar dieses Jahres auf der Medien-Messe MIDEM in Kontakt mit einem der Geschäftsführer des US-amerikanischen Labels "Petroglyph-Records", das es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht hat, neue chilenische Musik außerhalb der Grenzen des südamerikanischen Staates zu repräsentieren. "Bereits im März hatte ich etliche Alben vorliegen, die von "Petroglyph Records" veröffentlicht worden waren, alle haben mich begeistert", schwärmt Wunderlich. "Also haben wir im Juni einen Vertriebsdeal gemacht und bereits im August wurden die ersten chilenischen Scheiben in Deutschland veröffentlicht. Inzwischen sind einige Radiostationen bei uns mit dem aufs erste Hören ungewöhnlichen Sound warm geworden und spielen regelmäßig Stücke aus den Platten, die ich ihnen zukommen habe lassen. Die Sache rollt langsam an. Echt wahr, ich möchte nicht ausschließen, dass es in Deutschland in den nächsten Jahren einen ähnlichen Boom mit chilenischem Sound gibt wie in den 1990ern mit dem kubanischen Sound. Es existiert in Chile eine Menge spannender Musik, die es zu entdecken gilt. Und er wird entdeckt werden, da bin ich mir sicher, weil Qualität sich immer durchsetzt."

Diese Einschätzung teilt selbstredend auch die junge Generation der chilenischen Musiker: "Seit Anfang der 90er haben wir die Möglichkeit, verschiedene Musikkanäle im Fernsehen zu empfangen", berichtet Angel Parra von der vor allem unter Jugendlichen beliebten Formation Los Tres, "das bedeutet, wir sind nicht mehr völlig vom Rest der Welt ausgeschlossen und bekommen durch den Einfluss von Gruppen aus anderen Ländern jede Menge Inspiration für unseren eigenen Stoff. Bei aller kulturellen Globalisierung ist uns allerdings wichtig, dass die urbane Folklore unserer Heimat Zentrum unserer Lieder bleibt. Ich denke, die Kombination aus Tradition und Moderne macht den Reiz unserer Stücke aus."

Doch auch in der chilenischen Szene ist man einerseits natürlich froh über die neu gewonnene kreative Freiheit, andererseits - so Rodrigo Cepeda - "sind wir besorgt über die politische Sorglosigkeit und Gleichgültigkeit gegenüber der musikalischen, politisch geprägten Vergangenheit der jungen Generation von jungen Bands. Die Teens und Twens von Chile, die heute Platten aufnehmen, wollen möglichst rasch viel Geld damit verdienen, wollen sich möglichst rasch auch im Ausland einen Namen machen. Sie glauben an amerikanische oder englische Idole, die sie im Fernsehen gesehen haben, die ahmen sie mit ihrem eigenem Sound nach. Ich finde das traurig. Wir Älteren haben lange dafür gekämpft, um überhaupt Musik machen zu dürfen und auch politische Aussagen in den Texten zu integrieren. Und jetzt will die nächste Generation klingen wie Britney Spears oder Bon Jovi. Das kann es nicht sein. Doch es scheint, die Globalisierung lässt sich nicht aufhalten. Nicht mal im endlich demokratischen Chile."

Nicht ganz so resigniert betrachtet Sol Aravena alias Muza die musikalische Situation in ihrer Heimat: "Okay, die jungen Künstler in unserem Land sehen sich als Kosmopoliten, sie lassen sich von diesen und jenen Einflüssen in ihrer Arbeit inspirieren. Letztendlich aber berufen wir uns alle auf die Tradition des eigenen Landes zurück. Denn die ist reichhaltig, die ist einzigartig. Wir wären verdammt dumm, wenn wir diese Kultur aussterben lassen würden. Dann hätte Pinochet mit seiner Strategie, Kunst zu töten, im Nachhinein Recht bekommen. Nein, unsere Kunst stirbt nicht! Weil sie absolut wunderbar und mit nichts auf der Welt zu vergleichen ist."

DIE 10 WICHTIGSTEN ALBEN AUS CHILE:
- Victor Jara-"Deja La Vida Volar" (Best Of)
- Joe Vasconcellos-"Transformación"
- Los Tres-"La Peineta"
- José Miguel Marquez-"Illapu"
- Francesca Ancarola-"Sons Of The Same Sun"
- Antonio Restucci-"Crisol"
- Marcelo Aedo-"Polosur Celeste"
- Emilio Garcia-"Ultrablues"
- Muza-"Cambio De Estacion"
- Subhira-"Transubhiriano"

zurück