Musikjournalismus / Essay - Neue Deutsche Welle

Es gibt sie wieder: Deutschsprachige Popmusik, die in der Öffentlichkeit geballt wahrgenommen wird! Selbst wenn sich die Musikpresse und die Plattenfirmen mit neuen Begriffen für diese Bewegung bislang zurückhalten, so klingt doch in Rezensionen und Artikeln über kommerziell erfolgreiche Bands wie Spillsbury, Mia, Wir sind Helden oder Klee und viele mehr immer etwas Gemeinsames mit: Ein Vergleich mit der so genannten "Neuen Deutschen Welle", kurz NDW genannt, und ein Vergleich mit den frühen 1980ern, in der diese Welle ganz nach oben schwappte im öffentlichen Bewusstsein - sowie zur selben Zeit eine Abwehrhaltung der jungen Bands gegen solcherart Vergleiche.

Wie jene legendäre, wegeweisende Gruppe namens Fehlfarben zu Beginn der 1980er müssen sich diese modernen Formationen oft gegen Dinge wehren, die von der Öffentlichkeit und den Medien auf sie projiziert werden und die über kurz oder lang vermutlich an ihnen haften bleiben werden. Oftmals wird in Kritiken das "typisch NDW-hafte" zitiert, obwohl die NDW nie wirklich ein Genre war und es im Grunde nichts wirklich "NDW-typisches" gab. Da sich viele Künstler, die wir zum geistigen Umfeld der Neuen Deutschen Welle rechnen, bis heute nicht mit diesem Begriff identifizieren, zeigt deutlich, dass man ihn eher als Ausdruck seiner Zeit denn als gemeinsamen Stilbegriff akzeptieren sollte. Die Vergleiche kommen vermutlich daher, dass es in der Geschichte der deutschsprachigen Popmusik außer der NDW und den Neuen Deutschen Bands von heute keine vergleichbaren Bewegungen gegeben hat, die ähnlich massenkompatibel waren. Um nicht missverstanden zu werden: Die NDW war ohne Zweifel kein bloßes Zwischenspiel, nach dessen Ende wieder normale Zustände eingekehrt wären. Viele Bands, die in den 1970ern und 1980ern aktiv und teilweise auch erfolgreich waren, hatten sich längst aufgelöst, die Mitglieder blieben aber aktiv, gründeten teilweise neue Formationen und starteten manchmal gar ein Comeback unter den Namen von einst. Bereits 1986 versuchten sich DAF an ihrem ersten Comeback, die LP "1st Step To Heaven" floppte jedoch, auf Grund der schlechten musikalischen Qualität übrigens absolut zurecht. Auch die Fehlfarben reformierten sich 1990 kurzzeitig, doch auch ihre "Platte des Himmlischen Friedens" fand nur wenig offizielle Beachtung. Die Fehlfarben konnten erst mit dem Album "Knietief im Dispo", das im Herbst 2002 erschien, sowie einer darauf folgenden Tournee halbwegs wieder an die Erfolge von einst anknüpfen, doch die Medien hatten mit dem späten Comeback der Band durchaus Probleme. Zwar wurde das Album zumeist gelobt, dennoch wurden die Fehlfarben bereits einen Generation zugeordnet, die ihren Zenit bereits zu Beginn der 1980er überschritten hatte. Einer Generation allerdings, die mit Beginn des neuen Jahrtausends künstlerisch Auslöser für eine neue Generation war, die sich genau auf die Musik jener legendären Epoche beruft - und damit erneut einen Nerv der Zeit trifft und durchaus in der Lage zu sein scheint, einen nationalen kulturellen Flächenbrand auszulösen.

Doch der Reihe nach: Mit dem Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts galt Punk in Deutschland als verdaut. Und das, obwohl in der heimischen Provinz zu jener Zeit noch ein paar Versprengte ihrer überfälligen Ramones- oder Buzzcocks-LP-Bestellungen harrten und in Fahrradkellern in beachtlichem Tempo drei, vier Akkorde auf dem schäbigen Nachbau einer "Fender"-Gitarre schrubbten. Heranwachsen unter Zuckerwasser-gehärteter Aufstellfrisur, in nonkonformistisch bemalter Lederjacke und betäubt vom Dosenbier - junge Menschen taten dies, rasch unverzichtbare Pinselstriche in groß- wie mittelgroßstädtischen Straßenbildern, schon bald recht gerne.

Dennoch, anglo-amerikanischer Punk war stets nur spannendes Underground-Thema in Deutschland und beileibe keine Charts-Angelegenheit. Der hiesige Konsument, der durch seine Einkäufe die Hitlisten fütterte, kaufte zu jener Zeit Musik, die dem Sahneschock der nicht enden wollenden 70er noch die Cocktailkirsche aufsetzte, am liebsten aus England oder den USA importiert, also Platten von mondänen Rockzirkuskapellen wie Supertramp, Saga, Toto, späten Genesis oder den mittelspäten Pink Floyd. Ganz so, als hätte "Sex Pistole" Johnny Rotten nie alles und jeden auf diesem Planeten angespuckt, der fürs Establishment stand, als wären Gitarrensoli niemals öffentlich von mit bunten Haaren versehenen Rotznasen geächtet worden, als hätte kein wilder Punk den in Keyboardtrotzburgen hausenden Art Rock-Hochnasen ordentlich vor die überdimensionalen Amptürme gekotzt.

Bis allerdings in Deutschland, also diesseits des Ärmelkanals, die ersten fanatischen Anhänger der dergestalt unmittelbaren, ungehobelten und vor allem brandneuen musikalischen Unterhaltung bzw. Protesthaltung ihre eigenen Lehren aus Punk und seinen Folgen zogen und schließlich selbst zum Instrument griffen, vergingen ein paar Monate. Doch als diese Entwicklung geschah, geschah sie in der Tat umso epochaler.

Bands mit so befremdlich klingenden Namen wie Fehlfarben, Malaria, Einstürzende Neubauten, Andreas Dorau, Die Krupps, Rheingold, Foyer Des Arts, KFC, Der Plan, Palais Schaumburg, Deutsch-Amerikanische Freundschaft, Ideal, FSK, Trio und - äußerst beachtlich in einem bis dato kulturell verunsicherten Deutschland - noch etliche mehr übersetzten ab Ende der 1970er die musikalische Sprache des Punk über Post Punk und New Wave bis hin zu Avantgarde und Konzeptkunst in ein sehr eigenes, vor allem aber ein radikal der deutschen Identität verbundenes Idiom. Dem haftete niemals der Hauch von Nationalismus, immer allerdings gesundes Selbstbewußtsein an, und diese neuen Gruppen fanden so zwischen verschiedenen Eckpunkten des noch frischen Kosmos bislang nie in Deutschland betretene Pfade, die sie in die strahlende Pop-Zukunft führten.

Obwohl sich die Pioniere der neuen einheimischen Musikbewegung, anfangs ungläubig bis mißmutig beäugt von den etablierten Rockisten und weitgehend unbemerkt von einem Publikum über die einzelnen Szenen in Berlin, Hamburg, München, Düsseldorf, etc. hinaus, fast alle dafür entschieden hatten, Sozialkritik, Dada, bloße Provokation und/oder kompletten Unsinn in deutsche Sprache zu packen, sollte es genau aus diesem Grund weder zuvor noch danach in der Geschichte der Pop- und Rockmusik im Nachkriegs-Deutschland eine zweite Phase geben, die so viel Aufsehen erregte. Die zumindest anfangs überaus innovative, des Schlagers oder bloßen Klamauks ganz und gar unverdächtige "Neue Deutsche Welle", wie der damalige Musikjournalist und als Kleinlabelchef bis heute äußerst angesehene Wellenmacher Alfred Hilsberg das musikalische Aufbegehren nannte, kam sogar im vom Festland seit jeher neidisch beäugten England als ordentliches Tosen an - vor allem bei Musikerkollegen und Kritikern sowie beim im Oktober 2004 tragischerweise verstorbenen Radio-Kultstar John Peel. Ihren tatsächlichen, weil künstlerischen Höhepunkt erreichte die NDW 1981. Das Gros der Popmuttersprachler hatte jedoch für die frühen schrägen Klänge der Teutonen kaum ein Ohr. Nur als gleich darauf NDW-Nachzügler wie Nena, Markus, Frl. Menke oder UKW in der Öffentlichkeit auftauchten und bereits mit ihren ersten eher harmlos-freundlichen Singles die Pole Positions der Hitparaden enterten, kamen im Zuge dieser deutschen Pop-Invasion auch die Pioniere jener Bewegung zum Zug und konnten sich massenwirksam Gehör verschaffen. Die Aufmerksamkeit sollte freilich nur von kurzer Dauer sein, lediglich bis Mitte der 80er steppte der NDW-Bär wie wild. Danach hatte es die große Plattenindustrie dank Veröffentlichungs-Overkill und falscher Firmenpolitik einmal mehr geschafft, einen aufregenden, einzigartigen und originellen musikalischen Trend zu Grabe zu tragen.

Rund 20 Jahre nach dem Ende der Neuen Deutschen Welle tummeln sich zu Beginn des neuen Jahrtausends wieder jede Menge Musiker, die ausschließlich Texte in deutscher Sprache singen, in den oberen Regionen der nationalen Hitparaden. Rosenstolz, Juli, Wir sind Helden, Sportfreunde Stiller, Mia und etliche mehr sind die modernen Pop-Heroen der Nation - und klingen textlich wie musikalisch, als wären sie eine verspätete Fortsetzung der NDW-Stars von einst. Allerdings - das Fazit aus Interviews, das die Autoren dieses Buches mit den Musikern der so genannten "Neuen Deutschen Bands" geführt haben, lautet: Es gibt keine "Zweite Deutsche Welle". Denn die aktuellen deutschsprachigen Bands bringen weder musikalisch noch inhaltlich innovative Aspekte in die Musikszene ein. Sie bilden keine spezifisch zu identifizierende musikalische Kultur wie z. B. Punk. Es existieren nicht, wie in den späten 1970ern und frühen 1980ern in Deutschland, geschlossene Gruppierungen geschweige eine geschlossene Gesamtszene.

Dennoch, gewisse Bezüge zur NDW sind zweifellos vorhanden: die deutsche Sprache, die Ironie, die Provokation in den Texten, die teilweise punkähnliche Musik, die Offenheit für neue Einflüsse, die Energie, mit der Musik gemacht wird - und nicht zuletzt der Hype, der die Bands in den Fokus der Öffentlichkeit rückt und sie Erfolg haben lässt. Auch die Gründe für den Erfolg sind ähnlich: Das Publikum kann sich mit den Bands identifizieren, weil sie auf Grund der deutschen Sprache und Aufbereitung der Liedinhalte verstanden werden und weil sie Themen ansprechen, die das Publikum von heute interessieren.

Dieses Buch beschäftigt sich ausführlich und eindringlich mit dem einmaligen Phänomen der Neuen Deutschen Welle auf der einen, mit dem brandaktuellen Phänomen Neuer Deutscher Bands auf der anderen Seite. Dazu wurden in ausführlichen Interviews die wichtigsten Vertreter beider Stilrichtungen befragt. Darüber hinaus enthält das Werk existentielle Essays, in denen der Stellenwert der NDW definiert und seine historische Wichtigkeit rekapituliert wird, in denen zudem ein Vergleich zwischen den Helden einheimischer Pop-Musik von damals und heute stattfindet. Und zu guter Letzt wird eine Audio-CD mit Hörbeispielen von einst und jetzt inklusive sein sowie eine CD-Rom, auf der die Kurzbiographien der wichtigsten Künstler sowie deren Charts-Platzierungen enthalten sein werden. Denn tatsächlich gab und gibt es in Deutschland Musiker, die partout nichts von Deutschtümelei und idiotischem Nationalismus halten - und sich dennoch die Freiheit genehmigen, eine ganz eigene kulturelle Identität zu erarbeiten oder erarbeitet zu haben.

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