| KRAUT-ROCK – GESTERN, HEUTE, MORGEN 
 
 In Chris Karrers gemütlicher  2-Zimmer-Wohnung im Münchner Stadtteil Schwabing ist die Zeit stehengeblieben:  Obwohl elf Uhr vormittags, hat das Sonnenlicht zu dieser Oase des indischen  Tands, der plüschigen Sofas und der rauchverhangenen Luft keine  Zutrittsberechtigung. So stellt der Jungspund von heute sich den Prototyp der  Hippie-Höhle in den späten 60ern vor; und genau diese Ära ist auch das  Zeitalter, über das Karrer am liebsten spricht.Denn der schmale Graubart mit den  Jesuslatschen, den orientalischen Leinen-Klamotten und dem kecken  Filou-Bärtchen ist eines der letzten, überzeugenden Hippie-Exemplare in diesem  unserem Land -–und darüber hinaus ein Original der vielbeschworenen „wilden Zeit“  um das sagenumwobene Jahr 1968, das mittendrin im Geschehen steckte. Viel  wichtiger aber noch: das trotz allem überlebt hat.
 Gleichzeitig ist der 56jährige  Wahl-Münchner mit Heimatstadt Kempten eine lebende Deutsch-Rock-Legende:  Gründungsmitglied derjenigen Band, die bis heute als Inbegriff für das kuriose  Phänomen „Kraut-Rock“ gilt – der Gruppe Amon Düül. Diese so wüste wie  genialische Formation gründete sich einst als „Münchner Kommune mit elf  Erwachsenen und zwei Kindern, die alles gemeinsam machen will, unter anderem  Musik“, und war vor über 35 Jahren die erste deutsche Band, die die  Kraut-Rock-Welle auch über die heimischen Grenzen hinaus zum Begriff machte.  Damals schmückten die Schwabinger sogar die Titelseiten von englischen  Musikgazetten wie etwa dem MELODY MAKER. Vor den Düüls hatte auf der Insel  niemand ernsthaft Notiz vom Geschehen in der popmusikalischen Wüste Germany  genommen, teutonische Rock & Roller übten sich bis dato darin, brav und  ungelenk den anglo-amerikanischen Idolen nachzueifern.
 „Amon Düül allerdings“, urteilte der MELODY  MAKER anno 1970, „ist die erste deutsche Gruppe, die als eigenständiger Beitrag  zur internationalen Pop-Kultur angesehen werden kann.“ Ins selbe euphorische  Horn stieß auch der britische Star-DJ John Peel, der zum großen Propagandisten  des Kraut-Rock in seiner Heimat wurde und die „Teutonic Sounds“ in seiner  Sendung rauf- und runternudelte.
 Kein Wunder: Peel war stets auf der Suche  nach neuen, aufregenden Klängen – und Amon Düül lieferten sie ihm.  Orgiastisch-psychedelische Klänge trafen in den Frühwerken der Gruppe wie  „Phallus Dei“ und „Yeti“ auf fanatischen Surrealismus, der pompöse Bombast  eines Richard Wagner duellierte sich mit lyrisch-zarten Folkklängen. Und alles  stand ganz im Zeichen der Improvisation, die aus etlichen Düül-Stücken Epen von  über 20 Minuten Länge machte.
 „Die Improvisation“, erinnert sich Karrer  mit verschmitztem Grinsen, „war das ein und alles. Wir hatten keine Zeit, um  viel zu proben. Wir handelten nach dem Grundsatz: Wer üben muß, der hat’s wohl  nötig. Das Leben damals war viel zu aufregend, um sich ins stille Kämmerlein zu  verziehen und ausschließlich auf die Musik zu konzentrieren.“
 Parallel zu Amon Düül entwickelten sich  auch in anderen Städten der Republik innovative Bands, die der Besatzer-Mentalität  in der hiesigen Rock & Roll-Szene entkommen wollten, indem sie mit neu  gewonnenem Selbstbewußtsein nach neuen Tönen suchten. Nicht nur deren Musik  klang häufig merkwürdig, sondern auch ihre Bandnamen: Faust, Can, Popol Vuh,  Kraftwerk, Ash Ra Temple, Tangerine Dream, Guru Guru oder Cluster, um nur die  bekanntesten zu nennen. Bis weit in die 70er hinein waren die „Kraut-Rocker“  das popmusikalische Aushängeschild einer bis dato verunsicherten Nation, die  endlich zu ihrer gegenwartskulturellen Identität finden wollte.
 Doch zum Ende jenes denkwürdigen,  aufregenden Jahrzehnts machte Punk aus England auch vor deutschen  Hörgewohnheiten nicht halt und verdrängte die Kultur-Rebellen von einst aus dem  Blickfeld, um sie für lange Zeit aus dem Gedächtnis der Konsumenten zu  streichen. Wer in den 80er Jahren noch über Kraut-Rock sprach, der galt als  kauziger Nostalgiker, der offensichtlich versuchte, die Zeit festzuhalten. Von  Glück reden konnte, wer, wie die Düsseldorfer Elektronik-Tüftler Kraftwerk, inzwischen  von den Medien einer anderen musikalischen Strömung zugerechnet wurde.
 „Wir waren“, erinnert sich Amon Düül-Mann  Chris Karrer, „zu Beginn unserer Karriere der absolute Underground. Doch in den  späten 70er Jahren gab es den nicht mehr, unsere äußerst revolutionären  Ideologien und Visionen von früher brachen im Alltag immer weiter weg, das  reaktionäre Spießertum war erneut im Vormarsch. Erschwerend hinzu kam, dass die  Düüls nie eine Single-Band oder in den Charts waren, sondern stets ein  subkulturelles Ereignis, Phänomen und Ausdruck seiner Zeit, eine Art  personifiziertes Gesamtkunstwerk. Wahrscheinlich hatten wir unsere  Szene-Bedeutung stets völlig unterschätzt. Deshalb konnten wir später niemals  davon profitieren.“
 Ähnliche Erfahrungen an seine musikalische  Erinnerungen hatte auch Florian Fricke, am 29.12.2001 mit nur 57 Jahren viel zu  früh verstorbener Mastermind von Popol Vuh, während eines Interviews Mitte der  90er Jahre, an seine musikalische Vergangenheit. Der klassisch ausgebildete  Komponist und Pianist stand seinem Projekt bis zu seinem Ableben über 30 Jahre  lang vor, bekannt geworden ist es einer breiteren Öffentlichkeit vor allem  durch die Soundtracks zu Werner Herzog-Filmen wie „Aguirre, der Zorn Gottes“,  „Nosferatu“ oder „Fitzcarraldo“. Ach ja: In England, Frankreich, Italien oder  den USA steckte man Popol Vuh gerne in die New-Age-Ecke – in die jene Band nach  Frickes Ansicht aber gar nicht hingehörte.
 Für ihre nicht unbeträchtliche  Anhängerschar paßte Popol Vuh sowieso in keinerlei Stil-Schublade. Fricke war  neben dem Klassik-Rock-Veteranen Eberhard Schöner der erste deutsche Musiker,  der bereits anno ’69 über einen Moog-Synthesizer verfügte, auf dem er die  ersten beiden Popol Vuh-Alben „Affenstunde“ und „In den Gärten Pharaos“  einspielte – noch heute gelten sie als Sternstunden im Bereich experimenteller  Elektronik-Musik.
 „Ehe die Düüls oder mein Projekt anfingen,  die Musikszene in Deutschland zu prägen“, resummierte der introvertierte  Grübler anläßlich unseres Gesprächs im Jahre 1995, „gab es nur seichten  Schlager auf der einen oder ein Sammelsurium schräger Töne auf der anderen  Seite. Also: Kitsch oder die völlige Negierung von Tonalität á la Stockhausen.  Wenn man ein seriöser Musiker sein wollte, galt die Faustregel: bloß keine  Melodien. Dadurch gab es natürlich ein riesiges Vakuum in der Musiklandschaft.  Und genau das versuchten wir zu füllen.“
 „Außerdem“, erinnerte sich Fricke, „litten  all die einheimischen Musiker vor 1968 unter einem kulturellen  Minderwertigkeitskomplex. Doch die gewaltigen Erfolge der Beatles und der  Rolling Stones mit ihrer rebellischen Attitüde hatten zur Folge, dass in ganz  Deutschland eine irre Aufbruchsstimmung entstand. Wir jungen Wilden fühlten uns  plötzlich als kosmopolitische Weltbürger. Und bei aller verschiedener  musikalischer Prägung von Can, Amon Düül oder Popol Vuh hatten wir doch eine  Sache gemeinsam: die Andersartigkeit, gepaart mit diesem visionären  World-Feeling.
 Der Rest Europas war unsicher wegen dieser  Bewegung, und um uns wie gewohnt abzuwerten, verpasste man uns das Etikett  „Kraut-Rock“. Wir Musiker fanden das zu Anfang total blöde. Doch die Industrie  stürzte sich darauf, als sie merkte, dass damit Geld zu machen war. Und  irgendwann traten auch wir die Flucht nach vorne an, nannten uns Kraut-Rocker und  füllten diesen Begriff mit jeder Menge Leben. Die große Ernüchterung kam  allerdings schnell. Denn während sich alle „Kraut-Rocker“ zu Beginn jener Ära  noch kannten und unterstützten, ließ dieses ungeheure Kollektivgefühl schon  Mitte der 70er Jahre nach. Jeder von uns mußte schauen, wo er blieb. Das  Hippietum war endgültig passé.“
 Bis Mitte der 90er Jahre dümpelten die  meisten Kraut-Rock-Veteranen vor sich hin. Chris Karrer schloß sich der  Münchner Weltmusik-Formation Embryo an und vagabundierte ein Jahrzehnt lang  quer durch den Planeten. Florian Fricke stellte einen Großteil seines Schaffens  in die Dienste des Filmemachers Werner Herzog, für den er Soundtracks  fabrizierte. Faust, Gila, Between und viele andere Bands lösten sich mangels  Nachfrage auf. Can und Kraftwerk zehrten vom Ruhm vergangener Tage. Guru Guru,  Tangerine Dream oder Cluster hielten sich äußerst mühsam und mit stetig  sinkenden Verkaufszahlen ihrer Tonträger über Wasser. Kraut-Rock, so schien es,  war endgültig zum rein historisch-nostalgischen Relikt der Pop-Geschichte  verkommen.
 Mitte der 90er Jahre allerdings sah die  Musik-Welt das anders. Popol Vuh, Guru Guru und Amon Düül hatten nach langer  Abstinenz neue, vielbeachtete Werke auf den Markt gebracht, Faust hatten sich  reuniert und in der legendären Londoner „Queen Elizabeth Hall“ ein beachtliches  Comeback in Form eines ausverkauften Konzertes hingelegt, Cluster tourten mit  großer Publikums- und Medienresonanz durch Japan und die USA. Schon war wieder  von Hype die Rede: „Kraut-Rock is back“, jubelte die zeitgeistige englische  Fachpresse.
 Überhaupt, England – hier flammte das  wiedererwachte und von keinem mehr ernsthaft erwartete Interesse an Kraut-Rock  zuerst auf. Schallplatten der geschichtsträchtigen Labels „Ohr“, „Pilz“ und  „Brain“ galten – ehe sie in den letzten Jahren beinahe durchgehend auf CD neu  veröffentlicht wurden – im Königreich als gesuchte Sammlerstücke und wurden mit  Preisen bis zu 90 Pfund (ca. 140 Euro) gehandelt. Für die junge Generation von  DJ’s und Soundtüftlern, die sich den damals angesagten Dance-Trends Jungle,  Ambient oder Techno verschrieben hatten, waren Can, Kraftwerk, Tangerine Dream  oder Popol Vuh nichts weniger als die Pioniere ihrer Zunft und schier  unerschöpfliche Sample-Quellen. Und Ex-New-Wave-Heroe Julian Cope hatte just in  dieser Zeit seine viel beachtete, radikal subjektiv e Hymne an jene Ära in  Buchform namens „Krautrock-Sampler“ veröffentlicht, in dem die „teutonic  sounds“ euphorisch in den Himmel gehoben wurden. „Kraut-Rock“, schwärmte Cope  darin, „ist der Pop-Sound der Zukunft! Das war, ist und wird immer die  spirituellste, experimentellste und aufregendste Musik dieses Planeten sein.“
 Auch Florian Fricke konstatierte Mitte der  90er leicht verwundert: „Der Trend zu unserem alten Kram ist schon seit ein  paar Jahren wieder da. Das liegt an der Techno-Bewegung: die echten Freaks  dieser Klänge wollen nicht nur ihren Sound hören, sondern sie sind auch extrem  geschichtsbewußt. Sie wollen zu den Wurzeln dieser Musik vordringen – und  stoßen bei ihrer Suche zwangsläufig auf uns.“
 Tatsächlich versuchten damals auch einige  der Pioniere von einst wie Popol Vuh („Shepherd’s Symphony“, 1997), Amon Düül  II („Nada Moonshine“, 1994), Klaus Schulze („Are You Sequenced?“, 1995),  Tangerine Dream („Gobelin’s Club“, 1996) oder Faust („You Know Faust“, 1996),  sich neues musikalisches Terrain zu erschließen. All diese eben genannten Werke  waren eindeutig geprägt von Techno-, House- oder Ambient-Beats.
 „Irgendwie“, grübelte Florian Fricke 1997 ,  „bin ich beeindruckt von Techno. Das liegt sicherlich daran, dass es diesem  Sound massenwirksam gelungen ist, die Archaik zurück in die Musik zu bringen.  Genau das war ja immer schon mein Grundthema, seit ich anfing, mich mit U-Musik  zu beschäftigen. Und eines Tages habe ich mir dann gedacht: „Warum zum Teufel  nicht mal eine Dance-Platte produzieren?“. Schließlich war das permanente  Experiment stets das Hauptanliegen meiner Arbeit.“
 Und weiter: „„Shepherd’s Symphony““, meinte  Fricke nach Erscheinen des Albums ’97, „ist sicher kein Bruch zu meiner  bisherigen Arbeit. Aber ich wollte mich zumindest einmal in meiner Vita an  einem zeitgenössischen Trend orientieren, ohne meine Wurzeln dabei zu  verleugnen. Ich habe versucht, an die Seele einer häufig seelenlos gespielten  Musik vorzudringen. Und ich wollte endlich mal eine Platte speziell für junge  Leute machen.“
 Auch Amon Düül II hatten mit ihrem bislang  letzten Studio-Werk „Nada Moonshine“ versucht, ein zeitgemäßes Werk  abzuliefern, das in seiner psychedelischen Ausrichtung an die Vergangenheit  erinnert und in seinen munteren Beats auf die Zukunft verweist. An dieser  Grundeinstellung zur Musik wird sich beim nächsten Amon Düül-Werk, das noch in  diesem Jahr das Licht der Welt erblicken soll, nichts ändern. „Ich fühle mich“,  lacht Chris Karrer, „in der heutigen Zeit recht wohl, auch wenn ich die  Vergangenheit als Vision und verklärtes Ideal nach wie vor hochhalten möchte.
 Doch dieses sehr harmonische Nebeneinander  von Mode, Kunst und Politik der heutigen Zeit gefällt mir sehr. Früher, da gab  es doch nur die Ausgrenzung der verschiedensten Fraktionen. Diese sturen 68er,  das war letztendlich doch ein furchtbar verkniffener Haufen! Ich sehe mich zwar  immer noch als Hippie, aber ich bin voll und ganz im Neuen Jahrtausend zu  Hause. Ich brauche diese Kontroverse, denn klar, in der Moderne gibt es diese  schrecklich dumpfe Oberflächlichkeit, die einen lähmt. Aber mit den Erfahrungen  von gestern ist es für mich ein leichtes, diese zu überwinden.“
 Und unter diesen Umständen ist es kein  Wunder, dass Can, Kraftwerk, Amon Düül oder Popol Vuh selbst knapp zehn Jahre  nach dem Mini-Revival ihrer Musik wie ihrer Bandnamen auch im aktuellen  Jahrtausend weiterhin im Gespräch sind. Schließlich waren Visionen und  Originalität nie so gefragt wie heute. Da verzeiht man Chris Karrer selbst sein  anachronistisches Heim und seine eigenartigen Klamotten – Individualität und  Identität sind nun mal kostbare Trümpfe im gesichts- und seelenlosen  Pop-Geschäft von heute.
 Tatsache ist, dass Can jüngst eine DVD auf  den Markt gebracht haben, Kraftwerk nach 17 Jahren Abstinenz eine neue CD sowie  im April auf Tour gehen, von Popol Vuh wird das Gesamtwerk von immerhin 20  Alben peu a peu ab Februar bei SPV im Nachlaß erscheinen, auch der  avantgardistische Streifen „Amon Düül Play Phallus Dei“ ist seit kurzem auf DVD  zu haben, Hans-Joachim Irmler von Faust hat eine post-psychedelische  Ambient-Scheibe unter das Volk gebracht, Tangerine Dream die IV. Folge ihrer  „Dream Mixes“. Kraut-Rock, so viel ist gewiss, war noch nie so angesagt und  vielleicht auch wertvoll wie heute – gerade, weil er jenseits aller Hitparaden  stattfindet. Die wirklich gute, da einzigartige Musik hat sich letztendlich  noch nie um die Charts geschert...
 DIE 10 WICHTIGSTEN KRAUT-ROCK-ALBEN AMON DÜÜL II-„Phallus Dei“:  Psychedelic-Wahn trifft auf lyrischen Folk, Richard-Wagner-Pomp auf jazzige  Improvisation – das Pionier- und Meister-Werk des Kraut-Rock. POPOL VUH-„Affenstunde“: Bei aller  Experimentierfreude ist dieses Erstlingswerk von Popol Vuh nach wie vor eine  der Sternstunden in der Geschichte der elektronischen Musik, ein Werk von  ergreifender Andacht. KRAFTWERK-„Autobahn“: Mit diesem skurril  vertonten Trip auf einer beliebigen Schnellstraße schaffte das Düsseldorfer  Quartett 1974 den Sprung über den großen Teich und verhalf Kraut-Rock auch in  den USA zu Ansehen. GILA-„Bury My Heart At Wounded Knee“: Die  Stuttgarter Polit-Kommune verlieh mit diesem zeitlosen Meisterwerk von  lyrischer Schönheit der Kraut-Bewegung ihr poetisches Gesicht. CLUSTER-„Cluster“: Das Meisterwerk der  ironischen Synthie-Kunst, die perfekte Gratwanderung zwischen U- und E-Musik im  elektronsichen zeitalter. TANGERINE DREAM-„Alpha Centauri“: Ein  kosmischer Synthie-Trip durch Raum und Zeit – und ein Vorgänger dessen, was  heute unter Ambient oder Trance Dance firmiert. GURU GURU-„Der Elektrolurch“: Hippietum  trifft Spaß-Rock & Roll – und mit dem Titelstück bewiesen Mani  Neumaier  und seine Jungs, dass  Kraut-Rock durchaus auch für Hit-Singles gut sein konnte. EMBRYO-„Embryos Rache“: Weltmusik in ihren  Anfangstagen – die Münchner Globetrotter verkoppelten orientalische und  asiatische Klänge früher als andere mit moderner Studio-Elektronik. CAN-„Ege Bamyasi“: Die intellektuellen  Avantgardisten unter den Kraut-Rockern mixten Klassik, Free Jazz und schwere  Rock-Rhythmen kongenial mit komplizierten Harmonie- und Melodiefolgen sowie  elektronischen Effekten. IHRE KINDER-„Leere Hände“: Die Nürnberger  brachten die deutsche Sprache in die Kraut-Rock-Szenerie ein – und politische  Anliegen in ihren Texten unter. 15 MUSIKER UND BANDS, DIE IN DER ÄRA DES  KRAUT-ROCK SONST NOCH ZÄHLTEN: CONRAD SCHNITZLERKLAUS SCHULZE
 BRAINSTORM
 NEU!
 HARMONIA
 FAUST
 BIRTH CONTROL
 FLOH DE COLOGNE
 FRUMPY
 GROBSCHNITT
 HÖLDERLIN
 JANE
 NOVALIS
 EPITAPH
 BETWEEN
 NEU!Äußerst schräg, dass sich das Interesse an  der deutschen Kult-Formation Neu! ausgerechnet durch die – gerade mal  einmünitige – Verwendung eines alten Titels aus dem Jahr 1973 auf dem aktuellen  Quentin Tarantino-Film „Kill Bill“ wieder formiert hat. Wobei jener Titel  namens „Super 16“ noch nicht mal bezeichnend ist für das Werk jener  Ausnahmetruppe, viel zu schräg und zu hibbelig klingt er – doch was ist schon  bezeichnend für eine Band, die Genres wie New Wave, Neue Deutsche Welle und  Avantgade-Pop bereits in den 70ern vorweg genommen hat, die wegweisende  Künstler wie David Bowie, David Sylvian oder Roxy Music maßgeblich beeinflußt  hat?
 Die Hauptmacher von Neu!, Michael Rother  und Klaus Dinger, sind jedenfalls ganz zufrieden mit der Neu!-Entdeckung ihres  Sounds von vor rund 30 Jahren, fühlen sich gebauchpinselt und bestätigt  gleichermaßen. Dass es Neu!, neben Amon Düül die Prototypen von Kraut-Rock,  trotz allem nie mehr wieder geben wird, beweist alleine schon die Tatsache,  dass die telefonischen Interviews räumlich getrennt an völlig verschiedenen  Orten stattfinden – Rother (Jahrgang 1950) nimmt in Hamburg den Hörer ab, wo er  in einem Studio gerade letzte Hand an sein neues Solo-Album legt, das im  Frühjahr das Licht der Welt erblicken soll, Dinger (Jahrgang 1946) in seiner  Heimatstadt Düsseldorf, wo er altes Neu!-Material zur eventuellen  Wiederveröffentlichung sichtet. Beiden Herren wurden die selben Fragen  gestellt, die Antworten darauf könnten unterschiedlicher nicht ausfallen.
 FRAGE: Eine Kult-Band liefert den  Soundtrack zu einem Kult-Film. Seid ihr stolz auf diese Angelegenheit?
 ROTHER: Ich weiß nicht, ob ich stolz darauf  sein soll – gefallen hat mir „Kill Bill“ auf alle Fälle. Lustig finde ich  zumindest die Umstände, wie Regisseur Tarantino auf uns als Band gestoßen ist:  Er hat sich als Inspiration für seinen aktuellen Film jede Menge Kung  Fu-Billigstreifen aus den 70ern zu Gemüte geführt und bei einem davon ist –  ohne unser Wissen – Musik von Neu! verwendet worden. Die hat ihm dann dermaßen  imponiert, dass er unbedingt ein Stück von uns auf dem Soundtrack haben wollte.  Irre!
 DINGER: Die Leute in den USA sind angeblich  von unserer Musik total begeistert, seit sie die duch den Tarantino-Film  entdeckt haben. Das befremdet mich ein wenig. Ich bin nicht der große Fan  amerikanischer Kultur. Ich hatte auch bislang von Quentin Tarantino und seiner  Arbeit noch nie etwas gehört gehabt. Aber immerhin: Das verwendete Stück auf  dem Streifen ist von mir, nicht von Rother. Das gefällt mir natürlich!
 FRAGE: Fühlt ihr euch geschmeichelt, dass  es auch knapp 30 Jahre nach dem Ende von Neu! noch ein dermaßenes Interesse an  der Arbeit der Gruppe gibt?
 ROTHER: Stolz ist ein gefährlicher  Ausdruck, den ich nicht schätze – wobei es ein tolles Gefühl ist, wenn man  Leute mit seiner Musik glücklich machen kann. Und dass etwa ein Typ wie John  Frusciante von den Red Hot Chili Peppers in jedem zweiten Interview unsere  Songs in den Himmel lobt, obwohl er selbst ein begnadeter Gitarrist ist, finde  ich natürlich grandios.
 DINGER: Manchmal fühle ich mich uralt, dann  wieder auf dem aktuellsten Stand der Dinge. Wenn ich sehe, wie sich unser alter  Scheiß nach wie vor verkauft, dann habe ich gelegentlich das Gefühl,  unsterblich zu sein.
 FRAGE: Man hat Neu! gerne in die Schublade  „teutonische Musik“ und „Kraut-Rock“ gesteckt. Habt ihr euch dort je wohl  gefühlt?
 ROTHER: Also, mit Nationaltümelei hatten  wir garantiert nie etwas zu tun. Das sieht man schon daran, dass Klaus die  meisten Texte zwar auf Deutsch, aber völlig unverständlich vor sich hin  gemurmelt hat. Das war eine bewußte Respektlosigkeit gegenüber der deutschen  Sprache! Texte sollten bei uns die Atmosphäre eines Liedes verstärken,  gleichzeitig sollten sie keine Bedeutung haben. Und: Wir hatten nie eine  deutsche, immer nur unsere eigene Identität.
 DINGER: Als wir mit Neu! zu Beginn der 70er  anfingen, war es einfach, schräge Ideen auf einem Tonträger umzusetzen. Mit  „Deutschland“ hatte das allerdings nie etwas zu tun, trotz der Verwendung der  deutschen Sprache. So etwas lenkt nur ab von der Musik. Was wir mit Neu!  erreichen wollten: einen eigenen Mikrokosmos schaffen, etwas völlig  Durchgeknalltes zu kreieren.
 FRAGE: 2001 sind eure drei Alben nochmals  auf CD neu veröffentlicht worden. War es viel Arbeit, das alte Zeug zu  digitalisieren?
 ROTHER: Mehr Arbeit als gedacht! Herbert  Grönemeyer, auf dessen Label die drei Scheiben erstmalig auf CD erschienen  sind, hat Klaus und mich kurzfristig zusammen gebracht und trotz einigen  Bauchgrummelns haben wir die Platten gemeinsam fertig gestellt. Immerhin haben  wir davon weltweit über 100.000 Kopien bislang verkauft. Der Aufwand hat sich  demnach gelohnt.
 DINGER: Ich mag das alte Zeug ja, doch  vorbei ist vorbei. Ich kümmerte und kümmere mich nicht groß darum. Viel  wichtiger an der Sache ist mir der dadurch entstandene Kontakt zu Herbert  Grönemeyer. Da passiert jetzt einiges mit meinem neuen Zeug. Darauf kommt es  mir an. Wen interessiert schon groß die Vergangenheit?
 FRAGE: Bei Neu! war vor allem die Kunst der  repetitiven Wiederholung entscheidend. Warum spielte die eine so entscheidende  Rolle?
 ROTHER: Die Magie der Wiederholung eines  Beats hat mich schon früh fasziniert. Schließlich habe ich zwischen meinem 10.  Und 12. Lebensjahr in Pakistan gelebt, dort ist diese Kunst der entscheidende  Faktor in der Folklore. Diese Magie hat mich niemals mehr losgelassen.
 DINGER: Wir von Neu! haben unendlich lange  Sessions gespielt, Nächte und Nächte lang. Dabei ging es stets um den Beat, den  einen und alles umfassenden Groove. Klar, dass sich diese Idee letztendlich in  der Musik niedergeschlagen hat – wider alle Elektronik, wider alle steril  funktionierenden Maschinen.
 FRAGE: Rhythmik ist demnach der alles  entscheidende Aspekt der Neu!-Musik?
 ROTHER: Rhythmik ist der existentielle Teil  des Lebens, keine Frage! Allerdings geht es auch um die Konzentration auf das eigene  Ego – die partout nichts mit der Welt um einen selbst außen rum zu tun hat.
 DINGER: Der Neu!-Rhythmus passierte stets  spontan. Ich konnte und kann bis heute den Beat in meinem Leben an- und  ausknipsen. Das Filmische in unserer Musik spielte aber garantiert eine ebenso  gewichtige Rolle. Neu! war in meinen Augen melodisch und atmosphärisch  zugleich, dabei stets rhythmus-orientiert. Wnn Neu! ein kleines Teilchen beim  neuen Tarantino-Film ist, der ja sehr körper-bezogen daher kommt, unterstützt  das meine Theorie nur.
 FRAGE: Ihr wart beide Mitglieder bei  Kraftwerk in den frühen 70er Jahren. War diese Arbeit ein wichtiger Einschnitt  in eurer Karriere?
 ROTHER: Klaus und ich haben versucht,  Material für das zweite Kraftwerk-Album aufzunehmen. Doch in dem halben Jahr  gab es so viel Streit mit Florian Schneider, dass wir es irgendwann gelassen  haben. Kraftwerk besteht aus äußerst egomanischen Personen. Wichtig war die  Zeit mit ihnen garantiert, aber menschlich war sie ein absoluter Tiefpunkt.
 DINGER: Was soll ich zu Kraftwerk schon  groß sagen? Wir wollten Menschen sein und die Maschinen. Damals schon. Ich  glaube, an ihrer Grundeinstellung zum Leben wie zur Musik hat sich seither  nicht viel geändert. Obwohl ich mich mit Ralf und Florian noch viele Jahre nach  unserer Trennung getroffen habe. Es war meistens recht nett.
 FRAGE: Neu!-Musik zeichnete stets die  einfache und dadurch umso vertrauter klingende Harmonik aus. War das eine  bewußte Entscheidung?
 ROTHER: Nein, denn ich hatte  Harmoniewechsel eigentlich abgelehnt – Klaus hat mich da erst drauf gebracht.  Während meiner Zeit mit Neu! musste ich mir die Welt der Melodie erst erlernen  und erarbeiten.
 DINGER: Ich hatte nie ein Problem damit,  kraft der Macht von Melodien einen breiteren Markt zu erobern. Ich wollte immer  schon gerne ein Star sein. Allerdings wollte ich mich nie dabei verbiegen  müssen. Vielleicht sind wir deswegen bis heute keine Superstars geworden.  Vielleicht hört man deshalb allerdings bis heute unseren Sound.
 POPOL VUHDas voller Stolz gleich als erstes: Popol  Vuh haben in den 30 Jahren ihrer Existenz nichts weniger als Musikgeschichte  geschrieben. Mit ihren ersten beiden Alben „Affenstunde“ und „In den Gärten  Pharaos“ waren sie Pioniere der elektronischen Musik. Mit „Hosianna Mantra“  („eine der schönsten und ergreifendsten Platten überhaupt“, so der MUSIK  EXPRESS 1973 völlig zurecht) nahmen sie bereits bei Erscheinen des Werks Anno  ’73 den Begriff „New Age-Musik“ vorweg. Durch die Soundtracks für zahlreiche  Werner Herzog-Streifen wie „Aguirre, der Zorn Gottes“ oder „Nosferatu“  begründeten Popol Vuh das Genre von der eigenständigen Filmmusik. Mit dem  Meisterwerk „City Raga“ von 1995 haben sie es perfekt geschafft, dem oftmals  seelenlosen Metier Techno eine spirituelle Seele einzuhauchen. Und mit dem letzten  Album „Messa Di Orfeo“ von 1999 haben Popol Vuh erreicht, Installation und  atmosphärische Klänge unter einen emotionale Wärme spendenden Hut zu bringen.
 Popol Vuh war zwischen 1971 und 2001 die  künstlerische Vision des gebürtigen Lindauers Florian Fricke. Die Musik dieses  Projekts mit mehrmals wechselnden Mitstreitern wird weltweit gerne als  „magische Musik“ bezeichnet. Musik, die einen Raum schafft, in dem der Hörer  sich neu erfahren kann. Fricke selbst hat seine Klänge am liebsten mit  „Shamanism Music“ oder „Fantasy Music“ tituliert – oder auch: „Musik von Herz  zu Herz, ursprünglich, sanft und wild zugleich.“
 Florian Fricke sah in seiner Musik neben  der Verpflichtung, ein „Klang-Abenteurer“ zu sein, wie ihn der populäre  italienische Journalist Enzo Gentile bewundernd nannte, auch einen  kosmopolitischen Anspruch: „Es ist schwer zu verstehen, dass wir als Menschen  wohl Einzelne und doch verbunden sind als eine Einheit“, sagte er einmal.  „Egal, ob schwarz oder weiß, gelb oder rot – wir sind e i n e Menschheit. Wenn  Politik und Religionen immer wieder von neuem Trennungen schaffen, ist es umso  mehr die Aufgabe und die – nur vordergründig ohnmächtige - Möglichkeit der  Kunst, verbindend und einigend zu wirken.
 Insbesondere die Musik, und zwar die  populäre Musik, hat sich dem Weg der Verschmelzung von Stilrichtungen der  unterschiedlichsten Kulturen zugewandt. Im Entstehen ist, was wir heute schon  „Weltmusik“ nennen können. Je mehr der Geist der Vernichtung herrscht, umso  notwendiger ist es, sich dem Geist des Friedens zuzuwenden.“
 Diesem Anspruch fühlte sich Florian Fricke  mit Popol Vuh auf mehr als 20 Alben verpflichtet. Stets war er Wegbereiter ganz  eigener Klänge, nie verriet er sich selbst in seiner Arbeit, mit jedem neuen  Werk erfand Fricke sich und seinen Anspruch an musikalische Spiritualität und  an tief gehenden Humanismus neu. Am 29.12.2001 war sein Körper zu schwach, um  den Kampf weiter aufzunehmen gegen eine Welt, die ihm kalt und seelenlos  vorkam, und die er wohl gerade deshalb mit der Intensität seiner Kompositionen  zu erwärmen versuchte – er starb im Alter von nur 57 Jahren in seiner  langjährigen Wahlheimat München.
 Was der Menschheit bleibt, ist ein  fulminantes Oeuvre, das jetzt auf 20 CD’s komplett neu aufgelegt wird. Und  vielleicht ist es ja auch so, dass Frickes alter Freund und Wegbegleiter, der  Regisseur Werner Herzog, recht behält mit seiner Einschätzung zum traurigen  Stand der Dinge: „Zutiefst betroffen versuche ich mir einzureden, es sei nur  ein Gerücht, dass Florian nicht mehr auf dieser Erde ist, aber dann macht sich  eine seltsame Gewißheit breit: Er ist irgendwie noch unter und, mit seiner  Stimme, seiner Musik – verborgen zwar, entfernt. Wirklich verlassen hat er uns  allerdings nicht.“
 TANGERINE DREAMSeit Tangerine Dream im Jahre 1967 gegründet  wurde, hat die Gruppe mit rein synthetischem Elektroniksound experimentiert.  Das führte dazu, dass aus diesem musikalischen Projekt inzwischen ein weltweit  anerkanntes Markenzeichen wurde, das heutzutage einen legendären Ruf besitzt,  unter anderem als „Urväter des Synthie-Pop“, „Ambient-Pioniere“ und  „Großmeister der elektronischen Meditationsmusik“. Speziell im europäischen  Ausland und in den USA verfügt dieses Berliner Projekt über Kult-Status, sieben  Mal wurde es bereits für einen „Grammy“ nominiert.
 Seit 1990 ist Tangerine Dream ein  Familienunternehmen, bestehend aus dem 60jährigen Gründungsmitglied Edgar und  seinem 33jährigen Sohn Jerome Froese, die für sämtliche Kompositionen  verantwortlich zeichnen und diese mit stetig wechselnden Mitspielern live wie  auf Platten umsetzen. Neben regelmäßigen Veröffentlichungen und Konzerten (ab  Frühjahr 2004 in Italien, Spanien und den USA) hat sich das innovative Duo in  den letzten Jahren auch als Filmsound-Komponisten, unter anderem für Ridley  Scott und William Friedkin, einen Namen gemacht.
 Doch wie geht man mit einem Ruf als  Pioniere um? „Ehrlich gesagt“, gesteht Froese Senior, „wir haben nie über  unsere Stellung in der Musikszene nachgedacht, wir haben einfach strikt unser  Ding durchgezogen. Das hatte und hat zur Folge, dass wir jegliche kreative  Freiheit genießen, fernab von Radioschemata oder stilistischen Trends.“  Hilfreich sei das Image nur insofern, dass Tangerine Dream inzwischen ein  Markenzeichen ist – und damit aus dem Stand heraus bereits eine ordentliche  Stückzahl von jedem neuen Tonträger verkauft.
 Tangerine Dream habe zwar stets an „ihrem  Ding“ festgehalten, dennoch gibt es zwischen der Formation von 1967 und der von  2004 gewaltige Unterschiede. Doch Edgar Froese sieht außer dem gemeinsamen  Namen durchaus Parallelen zwischen Tangerine Dream damals und heute, denn – so  Froese – dieses Projekt war stets dem Konzept „musikalische Tagebücher“  verpflichtet. „Und so wie Tagebuchseiten mal traurige und mal euphorische, mal  inspirierte und mal weniger inspirierte Stellen beinhalten, so sind auch die  Platten“, bekennt Froese. „Mögen auch nicht alle Alben ein gleich hohes  Qualitätslevel besitzen“, meint er, „zumindest waren wir mit unserer Musik  stets aufrichtig zu den Hörern.“
 Genau aus dem Grund hat sich Tangerine  Dream nie von irgendwelchen flüchtigen Trends irritieren oder gar korrumpieren  lassen, weiß Edgar Froese, „weil wir stets nur in unsere eigene kleine Welt  gelauscht haben.“ Die wechselnden Plattenfirmen haben zwar immer versucht, in  neue, gerade angesagte Hypes wie etwa Disco, House oder Techno zu drängen.  „Aber ich habe jedes Mal geantwortet, dass wir mit unserer Kiste nicht auf der  Autobahn fahren, sondern auf einer schnurgeraden Landstraße“, bekennt Froese.  „Unsere Entwicklung verläuft nicht parallel zu irgendeinem Zeitgeschehen.“
 Und doch ist vor kurzem das Album „Dream  Mixes Vol. IV“ erschienen, auf dem Tangerine Dream-Stücke aus den 70ern und  80ern in ein hoch-modernes House- und Techno-Gewand gesteckt wurden. „Das ist“,  sagt Edgar Froese, „eher Jeromes Baby, ich habe mich in dieses Projekt nur aus  dem Hintergrund agierend eingeschaltet.“ Er höre, meint er, die „Dream Mixres“  allerdings mit großem Vergnügen, „weil sie der Technowelle, die mir im großen  und ganzen am Arsch vorbeigeht, mit einem dicken Augenzwinkern begegnet. Das  finde ich toll daran“, lacht Froese Senior.
 Und Froese Junior meint zu den „Dream  Mixes“ lediglich achselzuckend: „Diese Scheiben sind als eine Art  Paralleluniversen zu den alten Tangerine Dream-Stücken anzusehen. Ich kannte  das Zeug zwar schon seit meiner Kindheit, doch erst vor einigen Jahren traute  ich mich, sie neu zu interpretieren und einzuspielen. Davor hatte ich zu viel  Respekt vor diesen Klassikern. Jetzt allerdings gehe ich an das Zeug äußerst  unbefangen heran. Und ich denke, das tut ihnen ziemlich gut. Wem es nicht  gefällt, der kann sich ja die Originale holen...“
 GURU GURUMani Neumeier, am 31. Dezember stolze 63  Jahre alt geworden, blickt auf eine schillernde musikalische Laufbahn zurück.  In den wilden 60ern gehörte der gebürtige Schweizer zu den Gründern von Guru  Guru, einer der wichtigsten Formationen des Kraut-Rock, die nicht nur den Jazz,  sondern vor allem den Spaß in diese krude Bewegung einführten. Guru Guru gibt  es bis heute, allerdings hat sich das musikalische Konzept im Laufe der  Jahrzehnte gewandelt: Heute macht die Band in erster Linie hoch-entwickelten  Ethno-Ambient-Rock.
 Guru Guru ist freilich nicht das komplette  musikalische Leben des Kuriosums Mani Neumeier. Als echter Weltmusiker ist er  eingefleischter Globetrotter, auf seinen ausgedehnten Trips durch alle fünf  Kontinente dringt er als selbst ernannter „leidenschaftlicher Tonjäger“ auch in  die abgelegensten Winkel der Hemisphäre vor. Unter diesem Aspekt ist die  Trilogie „Terra Amphibia“ 1990 ins Leben gerufen worden, deren abschließendes  Werk „Deep In The Jungle“ gerade eben erschienen ist. „Ich wollte damit nichts  zu Brillantes und Donnerndes einsetzen“, beschreibt Neumeier den Anspruch der  aktuellen Produktion, „damit die Sanftheit und Wärme der Tracks nicht gestört  wird. Es geht mir dabei um Entspannen, Glücklichsein und Einswerden mit der  Welt“, bekennt der Alt-Hippie.
 Neumeier fühlt sich zwar sehr wohl „im 21.  Jahrhundert zu Hause“, wie er bekennt, doch: „In den 60ern und frühen 70ern“,  meint er, „konnten wir unsere Visionen wesentlich besser realisieren, die Fans  damals waren auch neugieriger, weil unsere Musik total innovativ war. Heute  geht es in der Musik-Branche in erster Linie um Beamtentum, habe ich das  beklemmende Gefühl, es geht vor allem darum, wie viele Kopien man von einer  Platte losschlagen kann und nicht darum, ob das Zeug interessant ist.“
 Logische Konsequenz für Mani, dass er die  aktuelle Terra Amphibia-CD bei einem kleinen Label hat rausbringen lassen, denn  „damit wollte ich mir alle Freiheiten nehmen, weil ich ohne künstlerische  Freiheit nicht kreativ sein kann“, lacht der notorische Weltenbummler. „Zwar  berufe ich mich mit dieser Platte durchaus auf aktuelle Dance-Trends, doch  letztendlich klingt das Ergebnis immer nach mir und damit außerhalb der  Moderne. Denn bei allem Frust, die das aktuelle Musikgeschehen so mit sich  bringt – die Freude daran, neue Sounds zu kreieren, ist für mich ungebrochen.“
 KASTEN:KRAUT- ROCK, DEUTSCH-ROCK, KOSMISCHE MUSIK  ODER EINFACH NUR VERRÜCKT-GENIALES ZEUG?!
 Wir schreiben das legendäre Jahr 1968, als  sich Deutschlands Popmusik-Szene endgültig von all den Beatles, Kinks, Rolling  Stones und anderen Superstars aus der großen weiten Welt frei schwimmt und – im  wahrsten Sinne des Wortes - auf seinen ur-eigenen Trip geht. Oder, um es mit  den Worten des großen Beat-Autors Uwe Nettelbeck fünf Jahre später zu  beschreiben: „Die Idee dahinter war, nichts zu kopieren, was in der  anglo-amerikanischen Rockszene vorging. Und diese Idee funktionierte.“Das „Dahinter“ - Nettelbeck definierte mit  diesen beiden Sätzen ein Phänomen, das in nur wenigen Jahren ab 1968 viele  Namen bekam, bei dem es letztendlich aber stets lediglich um folgendes ging: um  Kompromißlosigkeit und absolute Originarität. Kraut-Rock nannten dieses  Phänomen bevorzugt die englischen Medien, Deutsch-Rock die heimische  Journallie, die davon „betroffenen“ Musiker konnten sich am ehesten auf den  Slogan „Kosmische Musik“ einigen. Letztendlich wurde mit all diesen kraftvoll  klingenden Worthülsen eine Musik beschrieben, die von waghalsigen deutschen  Verrückten erzeugt wurde, die nichts besseres zu tun hatten, als die Welt mit  unerhörten (und bis dato ungehörten) Sounds zu füllen. Musik aus  psychedelischen Soundlandschaften, farbenfrohem visuellem Hippietum und harter  Prä-Punk-Energie. Es geht um eine Ära, deren erste Phase vor rund einem  Vierteljahrhundert zu Ende ging und in Zeiten des perfekt organisierten Rock  & Roll-Zirkus doch unendlich weit weg erscheint.
 Jedenfalls: Der Rock & Roll, der ab  1968 von Bands wie Amon Düül, Tangerine Dream, Faust, Can oder Kraftwerk (zu  Beginn ihrer Laufbahn noch unter dem Namen Organisation firmierend) ans Licht  der Öffentlichkeit gezerrt wurde, hatte mit bis dato gehörtem Rock & Roll  nicht das Geringste zu tun. Stattdessen handelte es sich um einen musikalischen  Meltdown, der sich jeglicher Kategorisierung entzog.
 Kein Wunder, dass Kraut- oder Deutsch-Rock  sich gerade wegen seines unorthodoxen Auftretens im Rampenlicht in viele  verschiedene Szenen aufteilte, die einzig verbindenden Klammern waren  Unangepaßtheit im Ausdruck sowie deutsche Herkunft.  So gibt es etwa Klaus Schulze oder die Cosmic  Jokers, die sich der experimentellen Elektronik verbunden fühlten, Popol Vuh  und Tangerine Dream, die sich dem Meditativen verpflichtet hatten, Xhol Caravan  und die frühen Passport, die mit Jazz liebäugelten, Frumpy und Atlantis, die  den Blues ins Deutsche integrierten, Georg Deuter und Embryo, die auf die große  weite Welt der Ethno-Musik schielten, Out Of Focus oder Gila, die ihre Psyche  dem Psychedelischen geopfert hatten, Ougenweide und Bröselmaschine, die Folk  und Folklore verkrauteten, Epitaph und die Scorpions in ihren Anfangstagen, die  einer Art „kosmischem Hard-Rock“ huldigten, Ihre Kinder und Floh De Cologne,  die politische Botschaften mit durchgeknalltem Sound agitierten oder Eloy und  Nektar, die dem Rock & Roll die Fantasy-Sporen gaben.
 Tatsache ist jedenfalls, dass es in  Deutschland nie wieder eine so abwechslungsreiche, innovative, verrückte,  geniale, originelle, schlicht: lebendige Musik-Szene gab wie in der Dekade  zwischen ’68 und ’77, ehe Punk dem „Neuen Deutsch-Rock“ den Garaus machte. Zum  Glück ist das Interesse an dieser unglaublichen Musik nie völlig erloschen, die  Alben von wegweisenden Deutsch-Labels wie „Ohr“, „Pilz“, „Brain“ oder „Sky“  sind in den letzten Jahren nahezu vollständig auf CD wiederveröffentlicht  worden. Denn Große Kosmische Musik hat auch im Kosmos des Neuen Jahrtausends  ihren Platz. Schließlich hat sie sich seit jeher außerhalb von Zeit und Raum abgespielt...
 | zurück 
 
 |