KRAUT-ROCK – GESTERN, HEUTE, MORGEN

In Chris Karrers gemütlicher 2-Zimmer-Wohnung im Münchner Stadtteil Schwabing ist die Zeit stehengeblieben: Obwohl elf Uhr vormittags, hat das Sonnenlicht zu dieser Oase des indischen Tands, der plüschigen Sofas und der rauchverhangenen Luft keine Zutrittsberechtigung. So stellt der Jungspund von heute sich den Prototyp der Hippie-Höhle in den späten 60ern vor; und genau diese Ära ist auch das Zeitalter, über das Karrer am liebsten spricht.
Denn der schmale Graubart mit den Jesuslatschen, den orientalischen Leinen-Klamotten und dem kecken Filou-Bärtchen ist eines der letzten, überzeugenden Hippie-Exemplare in diesem unserem Land -–und darüber hinaus ein Original der vielbeschworenen „wilden Zeit“ um das sagenumwobene Jahr 1968, das mittendrin im Geschehen steckte. Viel wichtiger aber noch: das trotz allem überlebt hat.
Gleichzeitig ist der 56jährige Wahl-Münchner mit Heimatstadt Kempten eine lebende Deutsch-Rock-Legende: Gründungsmitglied derjenigen Band, die bis heute als Inbegriff für das kuriose Phänomen „Kraut-Rock“ gilt – der Gruppe Amon Düül. Diese so wüste wie genialische Formation gründete sich einst als „Münchner Kommune mit elf Erwachsenen und zwei Kindern, die alles gemeinsam machen will, unter anderem Musik“, und war vor über 35 Jahren die erste deutsche Band, die die Kraut-Rock-Welle auch über die heimischen Grenzen hinaus zum Begriff machte. Damals schmückten die Schwabinger sogar die Titelseiten von englischen Musikgazetten wie etwa dem MELODY MAKER. Vor den Düüls hatte auf der Insel niemand ernsthaft Notiz vom Geschehen in der popmusikalischen Wüste Germany genommen, teutonische Rock & Roller übten sich bis dato darin, brav und ungelenk den anglo-amerikanischen Idolen nachzueifern.
„Amon Düül allerdings“, urteilte der MELODY MAKER anno 1970, „ist die erste deutsche Gruppe, die als eigenständiger Beitrag zur internationalen Pop-Kultur angesehen werden kann.“ Ins selbe euphorische Horn stieß auch der britische Star-DJ John Peel, der zum großen Propagandisten des Kraut-Rock in seiner Heimat wurde und die „Teutonic Sounds“ in seiner Sendung rauf- und runternudelte.
Kein Wunder: Peel war stets auf der Suche nach neuen, aufregenden Klängen – und Amon Düül lieferten sie ihm. Orgiastisch-psychedelische Klänge trafen in den Frühwerken der Gruppe wie „Phallus Dei“ und „Yeti“ auf fanatischen Surrealismus, der pompöse Bombast eines Richard Wagner duellierte sich mit lyrisch-zarten Folkklängen. Und alles stand ganz im Zeichen der Improvisation, die aus etlichen Düül-Stücken Epen von über 20 Minuten Länge machte.
„Die Improvisation“, erinnert sich Karrer mit verschmitztem Grinsen, „war das ein und alles. Wir hatten keine Zeit, um viel zu proben. Wir handelten nach dem Grundsatz: Wer üben muß, der hat’s wohl nötig. Das Leben damals war viel zu aufregend, um sich ins stille Kämmerlein zu verziehen und ausschließlich auf die Musik zu konzentrieren.“
Parallel zu Amon Düül entwickelten sich auch in anderen Städten der Republik innovative Bands, die der Besatzer-Mentalität in der hiesigen Rock & Roll-Szene entkommen wollten, indem sie mit neu gewonnenem Selbstbewußtsein nach neuen Tönen suchten. Nicht nur deren Musik klang häufig merkwürdig, sondern auch ihre Bandnamen: Faust, Can, Popol Vuh, Kraftwerk, Ash Ra Temple, Tangerine Dream, Guru Guru oder Cluster, um nur die bekanntesten zu nennen. Bis weit in die 70er hinein waren die „Kraut-Rocker“ das popmusikalische Aushängeschild einer bis dato verunsicherten Nation, die endlich zu ihrer gegenwartskulturellen Identität finden wollte.
Doch zum Ende jenes denkwürdigen, aufregenden Jahrzehnts machte Punk aus England auch vor deutschen Hörgewohnheiten nicht halt und verdrängte die Kultur-Rebellen von einst aus dem Blickfeld, um sie für lange Zeit aus dem Gedächtnis der Konsumenten zu streichen. Wer in den 80er Jahren noch über Kraut-Rock sprach, der galt als kauziger Nostalgiker, der offensichtlich versuchte, die Zeit festzuhalten. Von Glück reden konnte, wer, wie die Düsseldorfer Elektronik-Tüftler Kraftwerk, inzwischen von den Medien einer anderen musikalischen Strömung zugerechnet wurde.
„Wir waren“, erinnert sich Amon Düül-Mann Chris Karrer, „zu Beginn unserer Karriere der absolute Underground. Doch in den späten 70er Jahren gab es den nicht mehr, unsere äußerst revolutionären Ideologien und Visionen von früher brachen im Alltag immer weiter weg, das reaktionäre Spießertum war erneut im Vormarsch. Erschwerend hinzu kam, dass die Düüls nie eine Single-Band oder in den Charts waren, sondern stets ein subkulturelles Ereignis, Phänomen und Ausdruck seiner Zeit, eine Art personifiziertes Gesamtkunstwerk. Wahrscheinlich hatten wir unsere Szene-Bedeutung stets völlig unterschätzt. Deshalb konnten wir später niemals davon profitieren.“
Ähnliche Erfahrungen an seine musikalische Erinnerungen hatte auch Florian Fricke, am 29.12.2001 mit nur 57 Jahren viel zu früh verstorbener Mastermind von Popol Vuh, während eines Interviews Mitte der 90er Jahre, an seine musikalische Vergangenheit. Der klassisch ausgebildete Komponist und Pianist stand seinem Projekt bis zu seinem Ableben über 30 Jahre lang vor, bekannt geworden ist es einer breiteren Öffentlichkeit vor allem durch die Soundtracks zu Werner Herzog-Filmen wie „Aguirre, der Zorn Gottes“, „Nosferatu“ oder „Fitzcarraldo“. Ach ja: In England, Frankreich, Italien oder den USA steckte man Popol Vuh gerne in die New-Age-Ecke – in die jene Band nach Frickes Ansicht aber gar nicht hingehörte.
Für ihre nicht unbeträchtliche Anhängerschar paßte Popol Vuh sowieso in keinerlei Stil-Schublade. Fricke war neben dem Klassik-Rock-Veteranen Eberhard Schöner der erste deutsche Musiker, der bereits anno ’69 über einen Moog-Synthesizer verfügte, auf dem er die ersten beiden Popol Vuh-Alben „Affenstunde“ und „In den Gärten Pharaos“ einspielte – noch heute gelten sie als Sternstunden im Bereich experimenteller Elektronik-Musik.
„Ehe die Düüls oder mein Projekt anfingen, die Musikszene in Deutschland zu prägen“, resummierte der introvertierte Grübler anläßlich unseres Gesprächs im Jahre 1995, „gab es nur seichten Schlager auf der einen oder ein Sammelsurium schräger Töne auf der anderen Seite. Also: Kitsch oder die völlige Negierung von Tonalität á la Stockhausen. Wenn man ein seriöser Musiker sein wollte, galt die Faustregel: bloß keine Melodien. Dadurch gab es natürlich ein riesiges Vakuum in der Musiklandschaft. Und genau das versuchten wir zu füllen.“
„Außerdem“, erinnerte sich Fricke, „litten all die einheimischen Musiker vor 1968 unter einem kulturellen Minderwertigkeitskomplex. Doch die gewaltigen Erfolge der Beatles und der Rolling Stones mit ihrer rebellischen Attitüde hatten zur Folge, dass in ganz Deutschland eine irre Aufbruchsstimmung entstand. Wir jungen Wilden fühlten uns plötzlich als kosmopolitische Weltbürger. Und bei aller verschiedener musikalischer Prägung von Can, Amon Düül oder Popol Vuh hatten wir doch eine Sache gemeinsam: die Andersartigkeit, gepaart mit diesem visionären World-Feeling.
Der Rest Europas war unsicher wegen dieser Bewegung, und um uns wie gewohnt abzuwerten, verpasste man uns das Etikett „Kraut-Rock“. Wir Musiker fanden das zu Anfang total blöde. Doch die Industrie stürzte sich darauf, als sie merkte, dass damit Geld zu machen war. Und irgendwann traten auch wir die Flucht nach vorne an, nannten uns Kraut-Rocker und füllten diesen Begriff mit jeder Menge Leben. Die große Ernüchterung kam allerdings schnell. Denn während sich alle „Kraut-Rocker“ zu Beginn jener Ära noch kannten und unterstützten, ließ dieses ungeheure Kollektivgefühl schon Mitte der 70er Jahre nach. Jeder von uns mußte schauen, wo er blieb. Das Hippietum war endgültig passé.“
Bis Mitte der 90er Jahre dümpelten die meisten Kraut-Rock-Veteranen vor sich hin. Chris Karrer schloß sich der Münchner Weltmusik-Formation Embryo an und vagabundierte ein Jahrzehnt lang quer durch den Planeten. Florian Fricke stellte einen Großteil seines Schaffens in die Dienste des Filmemachers Werner Herzog, für den er Soundtracks fabrizierte. Faust, Gila, Between und viele andere Bands lösten sich mangels Nachfrage auf. Can und Kraftwerk zehrten vom Ruhm vergangener Tage. Guru Guru, Tangerine Dream oder Cluster hielten sich äußerst mühsam und mit stetig sinkenden Verkaufszahlen ihrer Tonträger über Wasser. Kraut-Rock, so schien es, war endgültig zum rein historisch-nostalgischen Relikt der Pop-Geschichte verkommen.
Mitte der 90er Jahre allerdings sah die Musik-Welt das anders. Popol Vuh, Guru Guru und Amon Düül hatten nach langer Abstinenz neue, vielbeachtete Werke auf den Markt gebracht, Faust hatten sich reuniert und in der legendären Londoner „Queen Elizabeth Hall“ ein beachtliches Comeback in Form eines ausverkauften Konzertes hingelegt, Cluster tourten mit großer Publikums- und Medienresonanz durch Japan und die USA. Schon war wieder von Hype die Rede: „Kraut-Rock is back“, jubelte die zeitgeistige englische Fachpresse.
Überhaupt, England – hier flammte das wiedererwachte und von keinem mehr ernsthaft erwartete Interesse an Kraut-Rock zuerst auf. Schallplatten der geschichtsträchtigen Labels „Ohr“, „Pilz“ und „Brain“ galten – ehe sie in den letzten Jahren beinahe durchgehend auf CD neu veröffentlicht wurden – im Königreich als gesuchte Sammlerstücke und wurden mit Preisen bis zu 90 Pfund (ca. 140 Euro) gehandelt. Für die junge Generation von DJ’s und Soundtüftlern, die sich den damals angesagten Dance-Trends Jungle, Ambient oder Techno verschrieben hatten, waren Can, Kraftwerk, Tangerine Dream oder Popol Vuh nichts weniger als die Pioniere ihrer Zunft und schier unerschöpfliche Sample-Quellen. Und Ex-New-Wave-Heroe Julian Cope hatte just in dieser Zeit seine viel beachtete, radikal subjektiv e Hymne an jene Ära in Buchform namens „Krautrock-Sampler“ veröffentlicht, in dem die „teutonic sounds“ euphorisch in den Himmel gehoben wurden. „Kraut-Rock“, schwärmte Cope darin, „ist der Pop-Sound der Zukunft! Das war, ist und wird immer die spirituellste, experimentellste und aufregendste Musik dieses Planeten sein.“
Auch Florian Fricke konstatierte Mitte der 90er leicht verwundert: „Der Trend zu unserem alten Kram ist schon seit ein paar Jahren wieder da. Das liegt an der Techno-Bewegung: die echten Freaks dieser Klänge wollen nicht nur ihren Sound hören, sondern sie sind auch extrem geschichtsbewußt. Sie wollen zu den Wurzeln dieser Musik vordringen – und stoßen bei ihrer Suche zwangsläufig auf uns.“
Tatsächlich versuchten damals auch einige der Pioniere von einst wie Popol Vuh („Shepherd’s Symphony“, 1997), Amon Düül II („Nada Moonshine“, 1994), Klaus Schulze („Are You Sequenced?“, 1995), Tangerine Dream („Gobelin’s Club“, 1996) oder Faust („You Know Faust“, 1996), sich neues musikalisches Terrain zu erschließen. All diese eben genannten Werke waren eindeutig geprägt von Techno-, House- oder Ambient-Beats.
„Irgendwie“, grübelte Florian Fricke 1997 , „bin ich beeindruckt von Techno. Das liegt sicherlich daran, dass es diesem Sound massenwirksam gelungen ist, die Archaik zurück in die Musik zu bringen. Genau das war ja immer schon mein Grundthema, seit ich anfing, mich mit U-Musik zu beschäftigen. Und eines Tages habe ich mir dann gedacht: „Warum zum Teufel nicht mal eine Dance-Platte produzieren?“. Schließlich war das permanente Experiment stets das Hauptanliegen meiner Arbeit.“
Und weiter: „„Shepherd’s Symphony““, meinte Fricke nach Erscheinen des Albums ’97, „ist sicher kein Bruch zu meiner bisherigen Arbeit. Aber ich wollte mich zumindest einmal in meiner Vita an einem zeitgenössischen Trend orientieren, ohne meine Wurzeln dabei zu verleugnen. Ich habe versucht, an die Seele einer häufig seelenlos gespielten Musik vorzudringen. Und ich wollte endlich mal eine Platte speziell für junge Leute machen.“
Auch Amon Düül II hatten mit ihrem bislang letzten Studio-Werk „Nada Moonshine“ versucht, ein zeitgemäßes Werk abzuliefern, das in seiner psychedelischen Ausrichtung an die Vergangenheit erinnert und in seinen munteren Beats auf die Zukunft verweist. An dieser Grundeinstellung zur Musik wird sich beim nächsten Amon Düül-Werk, das noch in diesem Jahr das Licht der Welt erblicken soll, nichts ändern. „Ich fühle mich“, lacht Chris Karrer, „in der heutigen Zeit recht wohl, auch wenn ich die Vergangenheit als Vision und verklärtes Ideal nach wie vor hochhalten möchte.
Doch dieses sehr harmonische Nebeneinander von Mode, Kunst und Politik der heutigen Zeit gefällt mir sehr. Früher, da gab es doch nur die Ausgrenzung der verschiedensten Fraktionen. Diese sturen 68er, das war letztendlich doch ein furchtbar verkniffener Haufen! Ich sehe mich zwar immer noch als Hippie, aber ich bin voll und ganz im Neuen Jahrtausend zu Hause. Ich brauche diese Kontroverse, denn klar, in der Moderne gibt es diese schrecklich dumpfe Oberflächlichkeit, die einen lähmt. Aber mit den Erfahrungen von gestern ist es für mich ein leichtes, diese zu überwinden.“
Und unter diesen Umständen ist es kein Wunder, dass Can, Kraftwerk, Amon Düül oder Popol Vuh selbst knapp zehn Jahre nach dem Mini-Revival ihrer Musik wie ihrer Bandnamen auch im aktuellen Jahrtausend weiterhin im Gespräch sind. Schließlich waren Visionen und Originalität nie so gefragt wie heute. Da verzeiht man Chris Karrer selbst sein anachronistisches Heim und seine eigenartigen Klamotten – Individualität und Identität sind nun mal kostbare Trümpfe im gesichts- und seelenlosen Pop-Geschäft von heute.
Tatsache ist, dass Can jüngst eine DVD auf den Markt gebracht haben, Kraftwerk nach 17 Jahren Abstinenz eine neue CD sowie im April auf Tour gehen, von Popol Vuh wird das Gesamtwerk von immerhin 20 Alben peu a peu ab Februar bei SPV im Nachlaß erscheinen, auch der avantgardistische Streifen „Amon Düül Play Phallus Dei“ ist seit kurzem auf DVD zu haben, Hans-Joachim Irmler von Faust hat eine post-psychedelische Ambient-Scheibe unter das Volk gebracht, Tangerine Dream die IV. Folge ihrer „Dream Mixes“. Kraut-Rock, so viel ist gewiss, war noch nie so angesagt und vielleicht auch wertvoll wie heute – gerade, weil er jenseits aller Hitparaden stattfindet. Die wirklich gute, da einzigartige Musik hat sich letztendlich noch nie um die Charts geschert...

DIE 10 WICHTIGSTEN KRAUT-ROCK-ALBEN

AMON DÜÜL II-„Phallus Dei“: Psychedelic-Wahn trifft auf lyrischen Folk, Richard-Wagner-Pomp auf jazzige Improvisation – das Pionier- und Meister-Werk des Kraut-Rock.

POPOL VUH-„Affenstunde“: Bei aller Experimentierfreude ist dieses Erstlingswerk von Popol Vuh nach wie vor eine der Sternstunden in der Geschichte der elektronischen Musik, ein Werk von ergreifender Andacht.

KRAFTWERK-„Autobahn“: Mit diesem skurril vertonten Trip auf einer beliebigen Schnellstraße schaffte das Düsseldorfer Quartett 1974 den Sprung über den großen Teich und verhalf Kraut-Rock auch in den USA zu Ansehen.

GILA-„Bury My Heart At Wounded Knee“: Die Stuttgarter Polit-Kommune verlieh mit diesem zeitlosen Meisterwerk von lyrischer Schönheit der Kraut-Bewegung ihr poetisches Gesicht.

CLUSTER-„Cluster“: Das Meisterwerk der ironischen Synthie-Kunst, die perfekte Gratwanderung zwischen U- und E-Musik im elektronsichen zeitalter.

TANGERINE DREAM-„Alpha Centauri“: Ein kosmischer Synthie-Trip durch Raum und Zeit – und ein Vorgänger dessen, was heute unter Ambient oder Trance Dance firmiert.

GURU GURU-„Der Elektrolurch“: Hippietum trifft Spaß-Rock & Roll – und mit dem Titelstück bewiesen Mani Neumaier  und seine Jungs, dass Kraut-Rock durchaus auch für Hit-Singles gut sein konnte.

EMBRYO-„Embryos Rache“: Weltmusik in ihren Anfangstagen – die Münchner Globetrotter verkoppelten orientalische und asiatische Klänge früher als andere mit moderner Studio-Elektronik.

CAN-„Ege Bamyasi“: Die intellektuellen Avantgardisten unter den Kraut-Rockern mixten Klassik, Free Jazz und schwere Rock-Rhythmen kongenial mit komplizierten Harmonie- und Melodiefolgen sowie elektronischen Effekten.

IHRE KINDER-„Leere Hände“: Die Nürnberger brachten die deutsche Sprache in die Kraut-Rock-Szenerie ein – und politische Anliegen in ihren Texten unter.

15 MUSIKER UND BANDS, DIE IN DER ÄRA DES KRAUT-ROCK SONST NOCH ZÄHLTEN:

CONRAD SCHNITZLER
KLAUS SCHULZE
BRAINSTORM
NEU!
HARMONIA
FAUST
BIRTH CONTROL
FLOH DE COLOGNE
FRUMPY
GROBSCHNITT
HÖLDERLIN
JANE
NOVALIS
EPITAPH
BETWEEN

NEU!
Äußerst schräg, dass sich das Interesse an der deutschen Kult-Formation Neu! ausgerechnet durch die – gerade mal einmünitige – Verwendung eines alten Titels aus dem Jahr 1973 auf dem aktuellen Quentin Tarantino-Film „Kill Bill“ wieder formiert hat. Wobei jener Titel namens „Super 16“ noch nicht mal bezeichnend ist für das Werk jener Ausnahmetruppe, viel zu schräg und zu hibbelig klingt er – doch was ist schon bezeichnend für eine Band, die Genres wie New Wave, Neue Deutsche Welle und Avantgade-Pop bereits in den 70ern vorweg genommen hat, die wegweisende Künstler wie David Bowie, David Sylvian oder Roxy Music maßgeblich beeinflußt hat?
Die Hauptmacher von Neu!, Michael Rother und Klaus Dinger, sind jedenfalls ganz zufrieden mit der Neu!-Entdeckung ihres Sounds von vor rund 30 Jahren, fühlen sich gebauchpinselt und bestätigt gleichermaßen. Dass es Neu!, neben Amon Düül die Prototypen von Kraut-Rock, trotz allem nie mehr wieder geben wird, beweist alleine schon die Tatsache, dass die telefonischen Interviews räumlich getrennt an völlig verschiedenen Orten stattfinden – Rother (Jahrgang 1950) nimmt in Hamburg den Hörer ab, wo er in einem Studio gerade letzte Hand an sein neues Solo-Album legt, das im Frühjahr das Licht der Welt erblicken soll, Dinger (Jahrgang 1946) in seiner Heimatstadt Düsseldorf, wo er altes Neu!-Material zur eventuellen Wiederveröffentlichung sichtet. Beiden Herren wurden die selben Fragen gestellt, die Antworten darauf könnten unterschiedlicher nicht ausfallen.
FRAGE: Eine Kult-Band liefert den Soundtrack zu einem Kult-Film. Seid ihr stolz auf diese Angelegenheit?
ROTHER: Ich weiß nicht, ob ich stolz darauf sein soll – gefallen hat mir „Kill Bill“ auf alle Fälle. Lustig finde ich zumindest die Umstände, wie Regisseur Tarantino auf uns als Band gestoßen ist: Er hat sich als Inspiration für seinen aktuellen Film jede Menge Kung Fu-Billigstreifen aus den 70ern zu Gemüte geführt und bei einem davon ist – ohne unser Wissen – Musik von Neu! verwendet worden. Die hat ihm dann dermaßen imponiert, dass er unbedingt ein Stück von uns auf dem Soundtrack haben wollte. Irre!
DINGER: Die Leute in den USA sind angeblich von unserer Musik total begeistert, seit sie die duch den Tarantino-Film entdeckt haben. Das befremdet mich ein wenig. Ich bin nicht der große Fan amerikanischer Kultur. Ich hatte auch bislang von Quentin Tarantino und seiner Arbeit noch nie etwas gehört gehabt. Aber immerhin: Das verwendete Stück auf dem Streifen ist von mir, nicht von Rother. Das gefällt mir natürlich!
FRAGE: Fühlt ihr euch geschmeichelt, dass es auch knapp 30 Jahre nach dem Ende von Neu! noch ein dermaßenes Interesse an der Arbeit der Gruppe gibt?
ROTHER: Stolz ist ein gefährlicher Ausdruck, den ich nicht schätze – wobei es ein tolles Gefühl ist, wenn man Leute mit seiner Musik glücklich machen kann. Und dass etwa ein Typ wie John Frusciante von den Red Hot Chili Peppers in jedem zweiten Interview unsere Songs in den Himmel lobt, obwohl er selbst ein begnadeter Gitarrist ist, finde ich natürlich grandios.
DINGER: Manchmal fühle ich mich uralt, dann wieder auf dem aktuellsten Stand der Dinge. Wenn ich sehe, wie sich unser alter Scheiß nach wie vor verkauft, dann habe ich gelegentlich das Gefühl, unsterblich zu sein.
FRAGE: Man hat Neu! gerne in die Schublade „teutonische Musik“ und „Kraut-Rock“ gesteckt. Habt ihr euch dort je wohl gefühlt?
ROTHER: Also, mit Nationaltümelei hatten wir garantiert nie etwas zu tun. Das sieht man schon daran, dass Klaus die meisten Texte zwar auf Deutsch, aber völlig unverständlich vor sich hin gemurmelt hat. Das war eine bewußte Respektlosigkeit gegenüber der deutschen Sprache! Texte sollten bei uns die Atmosphäre eines Liedes verstärken, gleichzeitig sollten sie keine Bedeutung haben. Und: Wir hatten nie eine deutsche, immer nur unsere eigene Identität.
DINGER: Als wir mit Neu! zu Beginn der 70er anfingen, war es einfach, schräge Ideen auf einem Tonträger umzusetzen. Mit „Deutschland“ hatte das allerdings nie etwas zu tun, trotz der Verwendung der deutschen Sprache. So etwas lenkt nur ab von der Musik. Was wir mit Neu! erreichen wollten: einen eigenen Mikrokosmos schaffen, etwas völlig Durchgeknalltes zu kreieren.
FRAGE: 2001 sind eure drei Alben nochmals auf CD neu veröffentlicht worden. War es viel Arbeit, das alte Zeug zu digitalisieren?
ROTHER: Mehr Arbeit als gedacht! Herbert Grönemeyer, auf dessen Label die drei Scheiben erstmalig auf CD erschienen sind, hat Klaus und mich kurzfristig zusammen gebracht und trotz einigen Bauchgrummelns haben wir die Platten gemeinsam fertig gestellt. Immerhin haben wir davon weltweit über 100.000 Kopien bislang verkauft. Der Aufwand hat sich demnach gelohnt.
DINGER: Ich mag das alte Zeug ja, doch vorbei ist vorbei. Ich kümmerte und kümmere mich nicht groß darum. Viel wichtiger an der Sache ist mir der dadurch entstandene Kontakt zu Herbert Grönemeyer. Da passiert jetzt einiges mit meinem neuen Zeug. Darauf kommt es mir an. Wen interessiert schon groß die Vergangenheit?
FRAGE: Bei Neu! war vor allem die Kunst der repetitiven Wiederholung entscheidend. Warum spielte die eine so entscheidende Rolle?
ROTHER: Die Magie der Wiederholung eines Beats hat mich schon früh fasziniert. Schließlich habe ich zwischen meinem 10. Und 12. Lebensjahr in Pakistan gelebt, dort ist diese Kunst der entscheidende Faktor in der Folklore. Diese Magie hat mich niemals mehr losgelassen.
DINGER: Wir von Neu! haben unendlich lange Sessions gespielt, Nächte und Nächte lang. Dabei ging es stets um den Beat, den einen und alles umfassenden Groove. Klar, dass sich diese Idee letztendlich in der Musik niedergeschlagen hat – wider alle Elektronik, wider alle steril funktionierenden Maschinen.
FRAGE: Rhythmik ist demnach der alles entscheidende Aspekt der Neu!-Musik?
ROTHER: Rhythmik ist der existentielle Teil des Lebens, keine Frage! Allerdings geht es auch um die Konzentration auf das eigene Ego – die partout nichts mit der Welt um einen selbst außen rum zu tun hat.
DINGER: Der Neu!-Rhythmus passierte stets spontan. Ich konnte und kann bis heute den Beat in meinem Leben an- und ausknipsen. Das Filmische in unserer Musik spielte aber garantiert eine ebenso gewichtige Rolle. Neu! war in meinen Augen melodisch und atmosphärisch zugleich, dabei stets rhythmus-orientiert. Wnn Neu! ein kleines Teilchen beim neuen Tarantino-Film ist, der ja sehr körper-bezogen daher kommt, unterstützt das meine Theorie nur.
FRAGE: Ihr wart beide Mitglieder bei Kraftwerk in den frühen 70er Jahren. War diese Arbeit ein wichtiger Einschnitt in eurer Karriere?
ROTHER: Klaus und ich haben versucht, Material für das zweite Kraftwerk-Album aufzunehmen. Doch in dem halben Jahr gab es so viel Streit mit Florian Schneider, dass wir es irgendwann gelassen haben. Kraftwerk besteht aus äußerst egomanischen Personen. Wichtig war die Zeit mit ihnen garantiert, aber menschlich war sie ein absoluter Tiefpunkt.
DINGER: Was soll ich zu Kraftwerk schon groß sagen? Wir wollten Menschen sein und die Maschinen. Damals schon. Ich glaube, an ihrer Grundeinstellung zum Leben wie zur Musik hat sich seither nicht viel geändert. Obwohl ich mich mit Ralf und Florian noch viele Jahre nach unserer Trennung getroffen habe. Es war meistens recht nett.
FRAGE: Neu!-Musik zeichnete stets die einfache und dadurch umso vertrauter klingende Harmonik aus. War das eine bewußte Entscheidung?
ROTHER: Nein, denn ich hatte Harmoniewechsel eigentlich abgelehnt – Klaus hat mich da erst drauf gebracht. Während meiner Zeit mit Neu! musste ich mir die Welt der Melodie erst erlernen und erarbeiten.
DINGER: Ich hatte nie ein Problem damit, kraft der Macht von Melodien einen breiteren Markt zu erobern. Ich wollte immer schon gerne ein Star sein. Allerdings wollte ich mich nie dabei verbiegen müssen. Vielleicht sind wir deswegen bis heute keine Superstars geworden. Vielleicht hört man deshalb allerdings bis heute unseren Sound.

POPOL VUH
Das voller Stolz gleich als erstes: Popol Vuh haben in den 30 Jahren ihrer Existenz nichts weniger als Musikgeschichte geschrieben. Mit ihren ersten beiden Alben „Affenstunde“ und „In den Gärten Pharaos“ waren sie Pioniere der elektronischen Musik. Mit „Hosianna Mantra“ („eine der schönsten und ergreifendsten Platten überhaupt“, so der MUSIK EXPRESS 1973 völlig zurecht) nahmen sie bereits bei Erscheinen des Werks Anno ’73 den Begriff „New Age-Musik“ vorweg. Durch die Soundtracks für zahlreiche Werner Herzog-Streifen wie „Aguirre, der Zorn Gottes“ oder „Nosferatu“ begründeten Popol Vuh das Genre von der eigenständigen Filmmusik. Mit dem Meisterwerk „City Raga“ von 1995 haben sie es perfekt geschafft, dem oftmals seelenlosen Metier Techno eine spirituelle Seele einzuhauchen. Und mit dem letzten Album „Messa Di Orfeo“ von 1999 haben Popol Vuh erreicht, Installation und atmosphärische Klänge unter einen emotionale Wärme spendenden Hut zu bringen.
Popol Vuh war zwischen 1971 und 2001 die künstlerische Vision des gebürtigen Lindauers Florian Fricke. Die Musik dieses Projekts mit mehrmals wechselnden Mitstreitern wird weltweit gerne als „magische Musik“ bezeichnet. Musik, die einen Raum schafft, in dem der Hörer sich neu erfahren kann. Fricke selbst hat seine Klänge am liebsten mit „Shamanism Music“ oder „Fantasy Music“ tituliert – oder auch: „Musik von Herz zu Herz, ursprünglich, sanft und wild zugleich.“
Florian Fricke sah in seiner Musik neben der Verpflichtung, ein „Klang-Abenteurer“ zu sein, wie ihn der populäre italienische Journalist Enzo Gentile bewundernd nannte, auch einen kosmopolitischen Anspruch: „Es ist schwer zu verstehen, dass wir als Menschen wohl Einzelne und doch verbunden sind als eine Einheit“, sagte er einmal. „Egal, ob schwarz oder weiß, gelb oder rot – wir sind e i n e Menschheit. Wenn Politik und Religionen immer wieder von neuem Trennungen schaffen, ist es umso mehr die Aufgabe und die – nur vordergründig ohnmächtige - Möglichkeit der Kunst, verbindend und einigend zu wirken.
Insbesondere die Musik, und zwar die populäre Musik, hat sich dem Weg der Verschmelzung von Stilrichtungen der unterschiedlichsten Kulturen zugewandt. Im Entstehen ist, was wir heute schon „Weltmusik“ nennen können. Je mehr der Geist der Vernichtung herrscht, umso notwendiger ist es, sich dem Geist des Friedens zuzuwenden.“
Diesem Anspruch fühlte sich Florian Fricke mit Popol Vuh auf mehr als 20 Alben verpflichtet. Stets war er Wegbereiter ganz eigener Klänge, nie verriet er sich selbst in seiner Arbeit, mit jedem neuen Werk erfand Fricke sich und seinen Anspruch an musikalische Spiritualität und an tief gehenden Humanismus neu. Am 29.12.2001 war sein Körper zu schwach, um den Kampf weiter aufzunehmen gegen eine Welt, die ihm kalt und seelenlos vorkam, und die er wohl gerade deshalb mit der Intensität seiner Kompositionen zu erwärmen versuchte – er starb im Alter von nur 57 Jahren in seiner langjährigen Wahlheimat München.
Was der Menschheit bleibt, ist ein fulminantes Oeuvre, das jetzt auf 20 CD’s komplett neu aufgelegt wird. Und vielleicht ist es ja auch so, dass Frickes alter Freund und Wegbegleiter, der Regisseur Werner Herzog, recht behält mit seiner Einschätzung zum traurigen Stand der Dinge: „Zutiefst betroffen versuche ich mir einzureden, es sei nur ein Gerücht, dass Florian nicht mehr auf dieser Erde ist, aber dann macht sich eine seltsame Gewißheit breit: Er ist irgendwie noch unter und, mit seiner Stimme, seiner Musik – verborgen zwar, entfernt. Wirklich verlassen hat er uns allerdings nicht.“

TANGERINE DREAM
Seit Tangerine Dream im Jahre 1967 gegründet wurde, hat die Gruppe mit rein synthetischem Elektroniksound experimentiert. Das führte dazu, dass aus diesem musikalischen Projekt inzwischen ein weltweit anerkanntes Markenzeichen wurde, das heutzutage einen legendären Ruf besitzt, unter anderem als „Urväter des Synthie-Pop“, „Ambient-Pioniere“ und „Großmeister der elektronischen Meditationsmusik“. Speziell im europäischen Ausland und in den USA verfügt dieses Berliner Projekt über Kult-Status, sieben Mal wurde es bereits für einen „Grammy“ nominiert.
Seit 1990 ist Tangerine Dream ein Familienunternehmen, bestehend aus dem 60jährigen Gründungsmitglied Edgar und seinem 33jährigen Sohn Jerome Froese, die für sämtliche Kompositionen verantwortlich zeichnen und diese mit stetig wechselnden Mitspielern live wie auf Platten umsetzen. Neben regelmäßigen Veröffentlichungen und Konzerten (ab Frühjahr 2004 in Italien, Spanien und den USA) hat sich das innovative Duo in den letzten Jahren auch als Filmsound-Komponisten, unter anderem für Ridley Scott und William Friedkin, einen Namen gemacht.
Doch wie geht man mit einem Ruf als Pioniere um? „Ehrlich gesagt“, gesteht Froese Senior, „wir haben nie über unsere Stellung in der Musikszene nachgedacht, wir haben einfach strikt unser Ding durchgezogen. Das hatte und hat zur Folge, dass wir jegliche kreative Freiheit genießen, fernab von Radioschemata oder stilistischen Trends.“ Hilfreich sei das Image nur insofern, dass Tangerine Dream inzwischen ein Markenzeichen ist – und damit aus dem Stand heraus bereits eine ordentliche Stückzahl von jedem neuen Tonträger verkauft.
Tangerine Dream habe zwar stets an „ihrem Ding“ festgehalten, dennoch gibt es zwischen der Formation von 1967 und der von 2004 gewaltige Unterschiede. Doch Edgar Froese sieht außer dem gemeinsamen Namen durchaus Parallelen zwischen Tangerine Dream damals und heute, denn – so Froese – dieses Projekt war stets dem Konzept „musikalische Tagebücher“ verpflichtet. „Und so wie Tagebuchseiten mal traurige und mal euphorische, mal inspirierte und mal weniger inspirierte Stellen beinhalten, so sind auch die Platten“, bekennt Froese. „Mögen auch nicht alle Alben ein gleich hohes Qualitätslevel besitzen“, meint er, „zumindest waren wir mit unserer Musik stets aufrichtig zu den Hörern.“
Genau aus dem Grund hat sich Tangerine Dream nie von irgendwelchen flüchtigen Trends irritieren oder gar korrumpieren lassen, weiß Edgar Froese, „weil wir stets nur in unsere eigene kleine Welt gelauscht haben.“ Die wechselnden Plattenfirmen haben zwar immer versucht, in neue, gerade angesagte Hypes wie etwa Disco, House oder Techno zu drängen. „Aber ich habe jedes Mal geantwortet, dass wir mit unserer Kiste nicht auf der Autobahn fahren, sondern auf einer schnurgeraden Landstraße“, bekennt Froese. „Unsere Entwicklung verläuft nicht parallel zu irgendeinem Zeitgeschehen.“
Und doch ist vor kurzem das Album „Dream Mixes Vol. IV“ erschienen, auf dem Tangerine Dream-Stücke aus den 70ern und 80ern in ein hoch-modernes House- und Techno-Gewand gesteckt wurden. „Das ist“, sagt Edgar Froese, „eher Jeromes Baby, ich habe mich in dieses Projekt nur aus dem Hintergrund agierend eingeschaltet.“ Er höre, meint er, die „Dream Mixres“ allerdings mit großem Vergnügen, „weil sie der Technowelle, die mir im großen und ganzen am Arsch vorbeigeht, mit einem dicken Augenzwinkern begegnet. Das finde ich toll daran“, lacht Froese Senior.
Und Froese Junior meint zu den „Dream Mixes“ lediglich achselzuckend: „Diese Scheiben sind als eine Art Paralleluniversen zu den alten Tangerine Dream-Stücken anzusehen. Ich kannte das Zeug zwar schon seit meiner Kindheit, doch erst vor einigen Jahren traute ich mich, sie neu zu interpretieren und einzuspielen. Davor hatte ich zu viel Respekt vor diesen Klassikern. Jetzt allerdings gehe ich an das Zeug äußerst unbefangen heran. Und ich denke, das tut ihnen ziemlich gut. Wem es nicht gefällt, der kann sich ja die Originale holen...“

GURU GURU
Mani Neumeier, am 31. Dezember stolze 63 Jahre alt geworden, blickt auf eine schillernde musikalische Laufbahn zurück. In den wilden 60ern gehörte der gebürtige Schweizer zu den Gründern von Guru Guru, einer der wichtigsten Formationen des Kraut-Rock, die nicht nur den Jazz, sondern vor allem den Spaß in diese krude Bewegung einführten. Guru Guru gibt es bis heute, allerdings hat sich das musikalische Konzept im Laufe der Jahrzehnte gewandelt: Heute macht die Band in erster Linie hoch-entwickelten Ethno-Ambient-Rock.
Guru Guru ist freilich nicht das komplette musikalische Leben des Kuriosums Mani Neumeier. Als echter Weltmusiker ist er eingefleischter Globetrotter, auf seinen ausgedehnten Trips durch alle fünf Kontinente dringt er als selbst ernannter „leidenschaftlicher Tonjäger“ auch in die abgelegensten Winkel der Hemisphäre vor. Unter diesem Aspekt ist die Trilogie „Terra Amphibia“ 1990 ins Leben gerufen worden, deren abschließendes Werk „Deep In The Jungle“ gerade eben erschienen ist. „Ich wollte damit nichts zu Brillantes und Donnerndes einsetzen“, beschreibt Neumeier den Anspruch der aktuellen Produktion, „damit die Sanftheit und Wärme der Tracks nicht gestört wird. Es geht mir dabei um Entspannen, Glücklichsein und Einswerden mit der Welt“, bekennt der Alt-Hippie.
Neumeier fühlt sich zwar sehr wohl „im 21. Jahrhundert zu Hause“, wie er bekennt, doch: „In den 60ern und frühen 70ern“, meint er, „konnten wir unsere Visionen wesentlich besser realisieren, die Fans damals waren auch neugieriger, weil unsere Musik total innovativ war. Heute geht es in der Musik-Branche in erster Linie um Beamtentum, habe ich das beklemmende Gefühl, es geht vor allem darum, wie viele Kopien man von einer Platte losschlagen kann und nicht darum, ob das Zeug interessant ist.“
Logische Konsequenz für Mani, dass er die aktuelle Terra Amphibia-CD bei einem kleinen Label hat rausbringen lassen, denn „damit wollte ich mir alle Freiheiten nehmen, weil ich ohne künstlerische Freiheit nicht kreativ sein kann“, lacht der notorische Weltenbummler. „Zwar berufe ich mich mit dieser Platte durchaus auf aktuelle Dance-Trends, doch letztendlich klingt das Ergebnis immer nach mir und damit außerhalb der Moderne. Denn bei allem Frust, die das aktuelle Musikgeschehen so mit sich bringt – die Freude daran, neue Sounds zu kreieren, ist für mich ungebrochen.“

KASTEN:
KRAUT- ROCK, DEUTSCH-ROCK, KOSMISCHE MUSIK ODER EINFACH NUR VERRÜCKT-GENIALES ZEUG?!

Wir schreiben das legendäre Jahr 1968, als sich Deutschlands Popmusik-Szene endgültig von all den Beatles, Kinks, Rolling Stones und anderen Superstars aus der großen weiten Welt frei schwimmt und – im wahrsten Sinne des Wortes - auf seinen ur-eigenen Trip geht. Oder, um es mit den Worten des großen Beat-Autors Uwe Nettelbeck fünf Jahre später zu beschreiben: „Die Idee dahinter war, nichts zu kopieren, was in der anglo-amerikanischen Rockszene vorging. Und diese Idee funktionierte.“
Das „Dahinter“ - Nettelbeck definierte mit diesen beiden Sätzen ein Phänomen, das in nur wenigen Jahren ab 1968 viele Namen bekam, bei dem es letztendlich aber stets lediglich um folgendes ging: um Kompromißlosigkeit und absolute Originarität. Kraut-Rock nannten dieses Phänomen bevorzugt die englischen Medien, Deutsch-Rock die heimische Journallie, die davon „betroffenen“ Musiker konnten sich am ehesten auf den Slogan „Kosmische Musik“ einigen. Letztendlich wurde mit all diesen kraftvoll klingenden Worthülsen eine Musik beschrieben, die von waghalsigen deutschen Verrückten erzeugt wurde, die nichts besseres zu tun hatten, als die Welt mit unerhörten (und bis dato ungehörten) Sounds zu füllen. Musik aus psychedelischen Soundlandschaften, farbenfrohem visuellem Hippietum und harter Prä-Punk-Energie. Es geht um eine Ära, deren erste Phase vor rund einem Vierteljahrhundert zu Ende ging und in Zeiten des perfekt organisierten Rock & Roll-Zirkus doch unendlich weit weg erscheint.
Jedenfalls: Der Rock & Roll, der ab 1968 von Bands wie Amon Düül, Tangerine Dream, Faust, Can oder Kraftwerk (zu Beginn ihrer Laufbahn noch unter dem Namen Organisation firmierend) ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurde, hatte mit bis dato gehörtem Rock & Roll nicht das Geringste zu tun. Stattdessen handelte es sich um einen musikalischen Meltdown, der sich jeglicher Kategorisierung entzog.
Kein Wunder, dass Kraut- oder Deutsch-Rock sich gerade wegen seines unorthodoxen Auftretens im Rampenlicht in viele verschiedene Szenen aufteilte, die einzig verbindenden Klammern waren Unangepaßtheit im Ausdruck sowie deutsche Herkunft.  So gibt es etwa Klaus Schulze oder die Cosmic Jokers, die sich der experimentellen Elektronik verbunden fühlten, Popol Vuh und Tangerine Dream, die sich dem Meditativen verpflichtet hatten, Xhol Caravan und die frühen Passport, die mit Jazz liebäugelten, Frumpy und Atlantis, die den Blues ins Deutsche integrierten, Georg Deuter und Embryo, die auf die große weite Welt der Ethno-Musik schielten, Out Of Focus oder Gila, die ihre Psyche dem Psychedelischen geopfert hatten, Ougenweide und Bröselmaschine, die Folk und Folklore verkrauteten, Epitaph und die Scorpions in ihren Anfangstagen, die einer Art „kosmischem Hard-Rock“ huldigten, Ihre Kinder und Floh De Cologne, die politische Botschaften mit durchgeknalltem Sound agitierten oder Eloy und Nektar, die dem Rock & Roll die Fantasy-Sporen gaben.
Tatsache ist jedenfalls, dass es in Deutschland nie wieder eine so abwechslungsreiche, innovative, verrückte, geniale, originelle, schlicht: lebendige Musik-Szene gab wie in der Dekade zwischen ’68 und ’77, ehe Punk dem „Neuen Deutsch-Rock“ den Garaus machte. Zum Glück ist das Interesse an dieser unglaublichen Musik nie völlig erloschen, die Alben von wegweisenden Deutsch-Labels wie „Ohr“, „Pilz“, „Brain“ oder „Sky“ sind in den letzten Jahren nahezu vollständig auf CD wiederveröffentlicht worden. Denn Große Kosmische Musik hat auch im Kosmos des Neuen Jahrtausends ihren Platz. Schließlich hat sie sich seit jeher außerhalb von Zeit und Raum abgespielt...

zurück