BURG HERZBERG-FESTIVAL 2007: VOR UNS DIE SINTFLUT

Dies wird keine Konzertreportage im klassischen Sinne. Vielmehr wird dies ein Situationsbericht. Was einerseits daran liegt, dass es sich beim zu beschreibenden Objekt der Begierde seit jeher um einen Ausnahmezustand handelt. Und in diesem Sommer hielt noch das Wetter und seine Launen die eine oder andere zusätzliche Überraschung bereit.
Doch der Reihe nach erzählt: Das „Burg Herzberg-Festival“, von dem hier berichtet werden soll, findet alljährlich im Sommer für vier Tage mitten in der idyllischen hessischen Pampa statt, in der Region Niederaula. Das Gelände ist gegenüber dem erhabenen Herzberg gelegen, dem das Festival seinen Namen verdankt.
Diese vier Sommer-Tage können das Leben eines Menschen Jahr für Jahr aufs Neue heftig beeinflussen, vielleicht sogar verändern, denn es handelt sich hierbei um keine gewöhnliche Open Air-Veranstaltung. Stattdessen um einen Mikrokosmos, oder – pathetischer, aber durchaus treffend ausgedrückt – um ein Paralleluniversum. „Over The Rainbow“ lautete das Motto anno 2007 und in der Tat fühlte man sich vier Tage lang seltsam entrückt. Auch kleine bis mittlere Naturkatastrophen hatten wenig Einfluss auf das durchweg positive Grundgefühl, gespickt von Erstaunen und gelegentlich von Ekstase.
„Burg Herzberg“ ist zumindest in Deutschland das einzige Festival, das die Bezeichnung „Hippie-Großveranstaltung“ verdient. Die Auswahl der auftretenden Künstler ist stets hochkarätig, ohne dass man sich dabei je um Charts und Trends geschert hätte oder schert. Wo sonst werden geniale ewige Außenseiter wie Van der Graaf Generator, Pavlov’s Dog, Man oder die Edgar Broughton Band als – vom Publikum gefeierte! – Top-Acts gehandelt? Solche Künstler bevölkern wohlgemerkt die Große Bühne und ziehen viele Tausend Besucher in ihren Bann, während auf der zweiten Bühne – der Freak Stage – echte Underdogs wie Electric Orange, Götz Widmeann, My Sleeping Karma oder Schizofrantik loslegen.
In diesem Jahr stellten sich satte 37 Einzelartisten und Formationen dem Publikum, das aus gut 10.000 Interessierten von ganz Deutschland wie den europäischen Nachbarländern bestand. Donnerstagabend, 19. Juli, irgendwann nach 18 Uhr (die im Katalog ausgegebenen Startzeiten werden prinzipiell eher als lässige Orientierungshilfe angesehen), stieg in alter Tradition die „Session Band“ auf die Große Bühne, bestehend aus Veranstaltern, Freaks, Fans und noch so einigen Musikbegeisterten mehr.
Diese Eröffnungsveranstaltung ist sinnbildlich für den Hauptanspruch des Festivals zu betrachten. Wir machen Musik aus Spaß an Kreativität ganz generell. Jeder, der auch nur ein bisschen sein Instrument beherrscht, ist herzlich eingeladen, für die Nicht-Musiker etwas zum Besten zu geben: aus tiefer Leidenschaft heraus, gerne mal dilettantisch, immer mit vollem Herzen bei der Sache. Somit der perfekte Auftakt für turbulente vier Tage, die auf uns Besucher zukommen würden. In dieser – reichlich langen – Nacht wartete noch Stoner-Rock von Ex-Kyuss-Mitstreiter Brant Bjork und seiner aktuellen Band auf uns, melancholischer Prog von der wirklich hervorragenden schwedischen Formation Paatos und schließlich noch in bester Hawkwind-Ozric Tantacles-Psychedelic-Space-Tradition als Abschluss Quantum Fantay.
Müde und glücklich macht sich der Autor dieser Zeilen gegen 3 Uhr morgens per Anhalter (was ich seit geschätzten 20 Jahren nicht mehr getan habe…) auf den Weg zu seiner rund 15 Kilometer entfernt gelegenen Pension. Keine Frage, dass ich nicht lange auf der Straße ausharren muss – wenn das alte Hitch-Hiker-System noch funktioniert, dann hier.
Am nächsten Mittag gegen 13 Uhr bringt die bayerische Zigeuner-Polka-Reggae-Punk-Truppe Weißwurscht is die direkt vor der Bühne Dösenden sowie die langsam aus ihren Wohnwagen und Zelten kriechenden Besucher plus die aus umliegenden Pensionen und Landhotels Eintrudelnden vom ersten Ton an auf Vordermann. Das Publikum hat keinerlei Chance, sich diesem Malstrom aus gebündelter Energie und rasanter Spielfreude zu entziehen. Ein virtuoser Auftakt für einen langen zweiten Tag auf „Burg Herzberg“, der einem das vor Müdigkeit zuvor etwas erschlaffte Lächeln zurück auf die Lippen meißelte.
Weiter geht es mit den hessischen local heroes Philip und Florian Bölter alias Purple Rain. Zwei Brüder, die aus ihren beiden Akustik-Klampfen erstaunlich heftigen Heavy Rock im Stil der frühen 1970er zaubern. Um sich bei manchen Songs Sound-technisch zu verstärken, wird immer mal wieder der eine oder andere Musiker spontan aus dem Publikum oder dem Backstage-Bereich auf die Bühne gebeten. Gegen 17 Uhr löst Ben Granfelt – der sich schon jede Menge Lorbeeren bei den Leningrad Cowboys, Gringos Locos und zuletzt Wishbone Ash verdient hat – mit seinem Duo die Hessen ab, um das Volk vor der Bühne mit einer spannenden Mixtur aus Jazz, Blues und Rock zu überzeugen.
Zwei Stunden später ist die Bühne wieder fest in bayerischer Hand: Der vielleicht letzte existierende „umherziehende Hasch-Rebell“ Hans Söllner entert die legendären Bretter, die angeblich die Welt bedeuten, zusammen mit Bayamann Sissdem. Fett abgehangener Reggae macht sich breit, dazu trefflich passende Duftwolken, die beinahe überall im Publikum nicht lange auf sich warten lassen, während „da Hansi“ in tiefstem Dialekt über „Legalisierung des heiligen Krauts“, über politische Missstände vor allem in seinem Heimatland und über die ehernen Hippie-Ideale Liebe, Friede, Freiheit schwadroniert.
Danach wird es düster, nicht nur am Himmel: Van der Graaf Generator scheinen die ersten Regentropfen mit ihren komplexen Klängen zwischen Pathos, Wut und Beklemmung richtiggehend beschwören zu wollen, allen voran der Zeremoniemeister der Schwermut, Sänger Peter Hamill, mit seinem schneidenden Organ. Für zarte Gemüter nur bedingt empfehlenswert, musikalisch allerdings sicher einer der ganz großen Höhepunkte des Festivals.
Im Anschluss daran wird es nur wenig optimistischer, denn auch Pavlov’s Dog sind nicht der Inbegriff von Fröhlichkeit. Dafür sorgt das Septett um Sänger David Surkamp, dessen Falsettstimme erstaunlich gut in Schuss ist, mit Klassikern wie „Song Dance“ oder „Julia“ für wohlige Gänsehaut. Plötzlich ist es schon wieder beinahe 3 Uhr, ehe Man für den Schlusspunkt des Tages zuständig zeichnet. Um ehrlich zu sein: Ich selbst stand, nachdem ich erfahren hatte, dass drei Bandmitglieder nicht von London ausreisen konnten, bereits wieder mit dem Daumen im feuchten Wind auf der Straße und hatte kein Problem, 15 Minuten später wohlbehalten in meiner Pensionskoje den Schlaf des selig Lächelnden zu genießen. Angeblich habe ich beim Gig der Waliser nicht allzu viel verpasst…
Der Samstag ist in alter Tradition Großkampftag des Festivals: Von 12 Uhr bis vier Uhr morgens ist auf beiden Bühnen permanent etwas geboten. Dass es dieses Mal bis 6 Uhr morgens dauern würde, ehe der letzte Ton verklungen war, konnte allerdings niemand vorausahnen. Zunächst lief alles – relativ – nach Plan. Floating Stone gaben ihren Akustik-Rock zum Besten, die Münchner Prog-Legende Sahara begeisterte mit erstaunlichem Elan auf ihre alten Tage, die Edgar Broughton Band krachte und rumpelte souverän durch ihr Blues-Folk-Rock-Set und Colosseum sind mit ihrem unnachahmlichem Jazz-Rock eh jenseits von Gut und Böse. Gegen 17 Uhr hatte ich selbst noch meinen persönlichen… nun ja… Höhepunkt der gesamten Veranstaltung, als ich die Ehre hatte, meinem alten Helden Bernd Witthüser einiges dick ausstaffiertes Rauchwerk auf die Bühne zu reichen, das von ihm auch brav gequalmt wurde, während er sich mit rollender Zunge verzweifelt an die Texte seiner Hippie-Klassiker-Alben aus den frühen 1970ern zu erinnern versuchte. Tragikomisch, ohne je peinlich zu sein. Witthüser, der letzte lebende Vollzeit-Freak.
Es ist 21.30 Uhr, Colosseum haben soeben ihr Set beendet – in diesem Moment kracht der Regen mit einer unglaublichen Wucht auf uns nieder und wird nicht nur das Gelände in eine Morastwüste verwandeln, sondern mit seiner knapp dreistündigen Dauer den zeitlichen Ablaufplan akut verändern. Eigentlich sollten Uriah Heep längst auf der Bühne stehen, doch die Truppe um Mick Box kündigt an, erst den Weg nach draußen zu nehmen, wenn die Welt wieder eine trockene ist. Um das zitternde, durchweichte und dennoch treu ausharrende Publikum nicht vollends zu enttäuschen, treten Riverside den Gang ins kühle Nass an, um einen fulminanten Gig zu absolvieren. Gegen 3.30 Uhr schließlich doch noch Uriah Heep mit solidem Set, und schließlich die Trance-Rhythmiker von Orange, die versuchen, dem feuchten Volk angenehme Träume zu verschaffen.
Am nächsten Tag sind Gummistiefel das angesagte Schuhwerk der Stunde, wobei die kaum jemand im Reisegepäck hat. Doch die Sonne hat sich halbwegs am Firmament zurückgemeldet, viel Sonniges liefern die Brasilianer von Naurea mit einem aufregenden Mix aus Samba und Baiao. Im Anschluss daran das große Kontrastprogramm mit der legendären Hamburger Mittelalter-Folk-Ikone Ougenweide.
Leider kam der Sechser allzu brav und bieder daher, ein wenig mehr Spielfreude hätte man sich dann doch gewünscht. Und sonst? Balkan Dancefloor von Shantel & The Bucovina Club Orkestar, Freakiges von den 17 Hippies und schließlich noch ein gelungener Ausklang mit den „Herzberg Blues Allstars 007“. Was bleibt, sind die Erkenntnisse, dass einen echten Hippie auch die Sintflut nicht viel anhaben kann, dass Musik eine heilende Wirkung auf die Seele hat, dass Trampen selbst in der hessischen Pampa funktioniert und dass wir uns hoffentlich alle beim „Burg Herzberg-Festival 2008“ wieder treffen. Bestätigter Zeitpunkt: 17.-20.7!

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