Leseproben


DAS NEUE JAHR

Es klingelte.

Ich überlegte verdammt lange, ob ich an die Tür gehen sollte. Die Welt konnte mir wie gewohnt gestohlen bleiben. Innerlich verfluchte ich dieses aufdringliche Geräusch, das nichts anderes tat, als etwas von mir zu fordern.

Es klingelte nochmals.

Silvesterabend. Ich spürte, wie kalt meine Bude war. Vor der Tür lag der Schnee kübelweise, und ich hatte natürlich vergessen, Öl für die Heizung nachzukaufen. Auch ansonsten war es um Sprit knapp bestellt, der Kühlschrank hatte weitaus festlichere Tage gesehen.

Es klingelte ein drittes Mal, jetzt eher müde. Meine letzte Chance.

Kein Fetzchen Spaß in Sicht. Ich dachte daran, dass ich zum ersten Mal auf keine dieser gottverflucht langweiligen Neujahrsparties eingeladen war. Irgendwie hatte es sich nicht ergeben. Tatsächlich – meine letzte Chance. Ich hatte gar keine andere Wahl, als zu öffnen.

Vor der Tür war Georg und klopfte sich Schnee von den Schultern. Neben ihm stand ein mickriger Kerl mit Buckel und straff gezogenem Seitenscheitel, der still vor sich hin zitterte und den ich nie zuvor gesehen hatte.

“Ey, Alter, große Klasse, dich zu sehen!“ Georg grinste wie ein betrunkenes Pferd und hieb der Gestalt neben ihm mit einer seiner mächtigen Pranken ins Kreuz. Die fiel mir beinahe entgegen. “Das ist mein Kumpel Feldadler.“ “Ich heiß’ nicht so, ich heiß’ Thomas“, quengelte der, nicht sehr überzeugend. “Quatsch“, brüllte Georg ihn an und hob schon wieder seine Pranke. “Du bist der Feldadler. The one and only!“

Feldadler duckte sich, er erwartete einen weiteren Schlag. Doch Georg ließ die ausgestreckte Hand nur müde nach unten gleiten. Wahrscheinlich ein neues Gesellschaftsspiel, dachte ich. “Na fein“, sagte ich. “Kommt rein, Jungs.“

Mir war klar, dass man Thomas bis ans Ende seiner Tage Feldadler nennen würde. Er war einer von der Sorte, die zum Verlieren geboren war, das sah ich auf den ersten Blick. Einer, den man bis zum Hals in die Scheiße getaucht hatte und der sich bei seinen Peinigern noch dafür bedankte, dass sie ihn nicht ganz rein drückten.

“Prima“, dachte ich. “Ich starte das neue Jahr mit einem Verlierer.“ Nichts ändert sich jemals. Ich atmete tief durch. Dann gab ich den Weg für meine Kumpels frei.

Sie trotteten gehorsam die endlosen Treppen in den dritten Stock des Altbaus, in dem ich wohne und schließlich ins einzige Zimmer meiner Bude – Georg mit weit ausholenden Schritten und leicht schwankend, Feldadler trippelnd und mit verkniffenem Arsch vor mir her. Artig hockten sie sich wie ein altes Ehepaar dicht nebeneinander auf das speckige Leintuch, das die schmale Matratze bedeckte. Ich setzte mich ihnen gegenüber auf den einzigen Stuhl im Raum, ein knarrendes, schlecht gepolstertes Etwas, das mir meine Tante Mimi vererbt hatte.

Feldadler starrte an die rissigen, unverputzten Wände, ging meine Bildergalerie durch. Er blickte auf ein handsigniertes Poster von Max Schmeling, der seine Fäuste siegesgewiß in die Luft reckte, seine Augen wanderten zu dem schreiend bunten Miro-Ausstellungsplakat hinter gesprungener Glasscheibe und blieb schließlich für eine Ewigkeit bei der nicht unbeträchtlichen, aber etwas vergilbten Oberweite der Playmate des Monats September ’72 hängen.

Ich hielt Feldadler bereits nach drei Minuten für einen verklemmten, verschissenen Langeweiler. Leider sollte ich recht mit meiner Einschätzung behalten. Georg erzählte mir später, der Kerl arbeite seit zehn Jahren bei der Post, wo er Briefe sortiere. Er hatte ihn völlig besoffen in einer Kneipe kennengelernt und war ihn seitdem nicht mehr losgeworden. Klar, Feldadler hatte jede Menge Zeit – keinen einzigen, gottverdammten Freund und schon gar kein Mädchen. “Er tut mir leid, das Arschloch“, meinte Georg, “deshalb habe ich ihn auch zu dir mitgeschleppt. Das ist meine große gute Tat für die Menschheit in diesem Jahr. Ein Bursche wie er ist an so einem Tag schließlich zu allem fähig, oder nicht? Er könnte sich aufknüpfen, na gut. Kein allzu großer Verlust.

Aber er könnte ebenso leicht mit irrem Grinsen losziehen und ein ganzes Altenheim massakrieren, Dreijährige in den Arsch ficken oder eine Reihenhauskolonie in Schutt und Asche legen. Keine angenehmen Geschichten. Das muß nicht sein. Wenigstens nicht heute, wenn Party angesagt ist.“

Das war Georg, wie ich ihn kenne. Den Kopf voll Scheiße und Party, immerzu. Aber er hat kein Problem damit. Er weiß, für ihn hält das Leben nichts sonst bereit. Das gefällt mir an ihm. Ich kenne den Mann seit meiner Schulzeit und er hat sich seither nicht wesentlich geändert. Will er auch nicht.

Georg brüllt eher, als dass er redet. Er erzählt eine Menge und das meiste davon vergisst man sofort wieder. Nichts als Müll. Aber wenigstens amüsanter Müll. Georg ist einer, der das Attribut “okay“ auf meiner persönlichen Beliebtheitsskala zugewiesen bekommt. Das ist verdammt weit oben auf dieser Skala. Darüber wird die Luft reichlich dünn. Ich bin keiner, der großen Respekt für seine Artgenossen hegt.

In Georgs rechter Hand erschien plötzlich wie aus dem Nichts eine dreiviertelvolle Brandyflasche. Das ließ ihn in meiner Skala noch ein gutes Stück steigen. Als er sie mir rüberrreichte, war er ganz oben angelangt. Ich nahm einen tiefen Zug.

“Na, alter Knabe, was hältste davon, wenn wir jetzt diese Pulle leer machen und uns dann in eine Party stürzen, auf der es jede Menge Frischfleisch gibt, eh?“ Ich bemerkte ein wildes Glitzern in Georgs blass schimmernden Augen. Als er das Wort “Frischfleisch“ aussprach, massierte er sich gedankenverloren die Eier und fuhr sich genießerisch mit der Zunge über die wulstigen Lippen. Ich nahm einen weiteren langen Schluck aus der Flasche. Es war gutes Zeug, nicht das billigste. “Wir sollten in der Tat erst den Brandy killen - und dann weitersehen“, sagte ich.

Ich hielt Feldadler die Pulle hin. Der winkte schlaff und etwas verloren dreinblickend ab. “Gib dem Kleinen lieber ’ne Tasse Milch“, höhnte Georg. “Er muß bei Kräften bleiben, schließlich ist er unser Fahrer heut’ nacht.“

Feldadler riss mir mit einem Ruck den Brandy aus der Hand, nippte kurz daran und verzog angewidert das Gesicht. Dann reichte er ihn an Georg weiter. Der schüttete einen nicht unbeträchtlichen Teil des Flascheninhalts in sich hinein. Ich beobachtete das mit Sorge. Georg mußte es bemerkt haben, denn im nächsten Moment hielt ich den Flaschenhals wieder fest umschlossen.

“Erzähl mir was über die Ladies auf dem Fest. Lassen sie sich leicht und problemlos flach legen? Du weißt, ich hab’ nicht viel Lust auf endlose Verführaktionen.“ Georg ließ ein linkisches Grinsen sehen. “Mann, die meisten Miezen lassen sich im Handumdrehen umlegen. Besonders auf Parties. Was meinst du, warum ich ständig dort zu finden bin? Mir geht’s um nichts anderes.“

Feldadler hatte sich daran gemacht, meinen Kühlschrank zu inspizieren. Tatsächlich grub er dort ’ne vergammelte, halbgefüllte Tüte Orangensaft  aus, die er in sich reinstürzte. Georg und ich drückten uns den Rest Brandy rein. Die Welt sah für einen Moment richtig gut aus. Unserer Abfahrt stand nichts mehr im Wege.

Ich spürte, dass ich wankte, als ich meinen Hintern aus Tante Mimi’s gepolstertem Ungetüm wuchtete. Das ließ mich für einen Augenblick an meiner Entscheidung zweifeln. Warum keinen Jahreswechsel in der besten Gesellschaft, die ich kenne – meiner eigenen? Doch dann dachte ich an Frischfleich und Georgs wulstige Lippen, die diesen Begriff obszön zermahlt hatten.

Ich gab mir einen Ruck, wühlte in meiner Kiste mit den Cassetten rum und zauberte tatsächlich ein altes Tape mit Tom Waits-Nummern daraus hervor. Ich schob sie in die Brusttasche meines NVA-Offiziersmantels, ehe ich mich daran machte, mit Georg und Feldadler die morschen Stufen des Treppenhauses hinunterzustolpern. Ich nahm vorsichtig Stufe um Stufe und hielt ängstlich wie ein Zweijähriger das Geländer umklammert, während Georg mir alle eineinhalb Sekunden mit seiner dröhnenden Linken auf den Rücken hieb und mir gleichzeitig ins Ohr brüllte: “Wir werden die Sau rauslassen, Mann, wir werden diese Nacht in die Knie zwingen, wir werden sie alle f i c k e n !“

Endlich standen wir draußen. Es schneite immer noch, es war kalt, es war unangenehm, es war so richtig beschissen. Außerdem war mein Rücken taub, das Mark sandte keinerlei Signale mehr ans Hirn. Am liebsten hätte ich kehrtgemacht, wäre all die verfluchten, knirschenden Treppen wieder hochgestapft, hätte mich unter meine Bettdecke verkrochen und das Neue Jahr schlafend begrüßt. Stattdessen tappste ich unsicher auf der eisglatten Straße.

Feldadler hatte einen gelben Kadett – aber das hatte ich eigentlich schon vorher gewußt. Ich war mir auch sicher, dass er ein mieser, defensiver Fahrer war. Genauso sicher war ich mir, dass ich ihm in den Wagen kotzen würde.

Ich quetschte mich in das Hintere des Autos. Während sich Feldadler das Panzerglas auf der Nase zurechtrückte, drängte ich ihm das Tom Waits-Band in die Rechte. Feldadler beäugte es mißtrauisch. “Was ’n da drauf?“ -“Gott im Himmel, hör’s dir an und frag nicht so dummes Zeug“, gab ich zurück.

Er warf die Cassette tatsächlich ein, dann startete er und wir fuhren los. Das heißt – wir schlichen dahin, denn natürlich war er Mitglied der defensiven Automobilfront. Das interessierte mich im Moment aber nicht, denn meine Konzentration galt vollständig ’ner Flasche Champagner, ’ner Flasche billigen, herben italienischen Rotweins und einer weiteren Pulle von dem guten Brandy neben mir auf der Rückbank. Ich entschied mich für den Brandy und war gerade dabei, die Flasche an meine Lippen zu setzen, als mir Georg, der sich’s auf dem Beifahrersitz bequem gemacht hatte, einen wuchtigen Hieb an den Brustkorb versetzte.

“Verdammt“, knurrte er, “das Zeug ist als Geschenk vorgesehen. Du kannst a u f der Fete soviel davon trinken, wie du willst. Aber nicht d a- v o r. ’right?“ -“’right“, antwortete ich.

Von da an nippte ich nurmehr heimlich an dem Brandy – also immer dann, wenn ich mich sorgfältig vergewissert hatte, dass mich Georg oder Feldadler nicht im Rückspiegel sehen konnten. Die restliche Zeit lauschte ich Mr. Waits, der einsam die Nacht anheulte und machte verschissenen Small Talk mit Georg. Wir unterhielten uns über die gemeinsame Schulzeit und über Typen aus der Vergangenheit, an die ich mich nur schwer erinnern konnte. Nachdem man mich aus der Penne geworfen hatte, waren alle ihre Gesichter und Namen in meiner Erinnerung in rasanter Geschwindigkeit verblasst.

Ich wußte, warum: Mit Schule verband ich nichts als unangenehme Gedanken. Schule und ich, das waren zwei Welten, die niemals zusammengekommen waren. Von der ersten Stunde an war fieser Krieg angesagt: Keine der beiden Parteien hielt sich an Spielregeln, jede versuchte gewaltsam, in den Mikrokosmos der anderen einzudringen. Auf Dauer hatte mich dieser Zustand zermürbt. Irgendwann hatte ich in einem letzten Akt des Aufbäumens den Bogen überspannt: das Auto eines verhassten Paukers hochgehen lassen, der ständig meine Alten zu sich reinzitierte, um ihnen seine Meinung über den mißratenen Sohn vorzujammern. Meine Alten, fand ich, hatten mit diesem Krieg nun gar nichts zu tun. Somit war sein Verhalten ein eklatanter Verstoß gegen sämtliche Gesetze. Und dafür mußte er bluten. Danach blutete ich, denn ich flog endgültig von der Schule.

Von da an lebte ich von Jobs. Jobs, die mich ankotzten, die mir aber gleichzeitig das Kleingeld verschafften, eine unabhängige Existenz zu führen. Diesen Zustand halte ich bis heute durch. Untertags stanze ich als Kollege Arsch Eisenteile zurecht und schlitze mir dabei die Hände auf, nachts hacken ebendiese schwieligen, vernarbten Finger wie irr in die Schreibmaschine. Short-Stories, Gedichte und dieser Kram. Keiner außer mir kann sich bislang recht dafür begeistern. Aber darum geht’s gar nicht. Zumindest hätte es schlimmer kommen können. Vielleicht auch besser.

Ich hatte jedenfalls keine rechte Lust, mich mit Georg über die alten Zeiten auszuplaudern. Sie waren vorbei – nichts als Scherereien, die mit dem Jetzt nichts zu schaffen hatten. Andererseits mußte ich es tun, um ihn von dem Gedanken abzubringen, dass ich eventuell seinen Brandy leermachen könnte. Und dieser Brandy war es mir wert.

Feldadler drückte plötzlich mein Tape aus dem Rekorder. “Laß die Musik an, du Arschgeige“, brüllte ich ihn an. -“Wir sind da. Außerdem hätte ich die miese Stimme dieses geisteskranken Alkoholikers keine Minute länger ertragen.“

Mit einem spitzen Schrei wollte ich mich auf Feldadler stürzen, aber Georg kannte meine ungezügelte Leidenschaft für Tom Waits von früher, reagierte blitzschnell und hielt meine beiden Fäuste mit einer seiner riesigen Klauen eisern umklammert, bis er sie beinahe zerquetschte. Schließlich ließ er von mir ab und wir drei wälzten uns aus dem Wagen. Jeder von uns nahm sich eine der Pullen – ich ängstlich darauf bedacht, nur ja die Brandy-Flasche zu erwischen.

Dann stiefelten wir auf diese Villa zu, aus der uns schon von weitem laute, widerwärtige Musik entgegendröhnte: ’ne Nummer von einer dieser New Wave-Truppen, die sich alle für größer als die Stones und für zumindest so groß wie Velvet Underground halten, aber die nicht in der Lage sind, den simpelsten Rhythmus über wenigstens drei Minuten durchzustehen.

Das elegante, blütenweiß gestrichene Haus umgab eine Art Mini-Park, der vollgestopft war mit schrottreifen Autos, Mopeds und Motorrollern. Ich konnte mir schon ganz genau die Jungs vorstellen, denen diese Schlitten und Maschinen gehörten, ich sah sie vor mir mit ihren Haargel-verkleisterten Frisuren und dem super-arroganten Lächeln im Gesicht. Dazu ihre ultrachicen, ultracoolen Miezen als Beifahrersitzaufstrich – mit wenig Arsch, verpackt in superenge Röhren, die mageren Titten in tiefausgeschnittenen Dekolletes aus feinster Seide präsentiert. Das ganze Leben ein Roadmovie mit ergreifenden Bildern, die Welt ein Werbespot für Designer-Jeans. Herrgott, ich wollte nicht rein in diesen Klischee-Bunker! Ich wollte nichts als mir den restlichen Brandy einfüllen und dieses Jahr halbwegs würdig irgendwo alleine beschließen. Sie konnten mich alle am Arsch lecken und ich würde dazu mein zufriedenstes, trunkenes Grinsen aufsetzen. Ich war jetzt nicht mal mehr heiß auf ein Mädchen.

“Entschuldigt mich einen Moment, Jungs“, sagte ich. Dann stellte ich mich vor einen der gepflegt gestutzten Büsche, die das gesamte Haus wie einen Schutzwall belagerten und übergab mich. Danach fühlte ich mich entschieden wohler. Jetzt war ich bereit, sie konnten kommen! Ich trabte artig hinter Georg und Feldadler in die angenehme Wärme des Flurs. Die Tür war angelehnt gewesen.

Das Geschehen spielte sich allem Anschein nach im Keller der Villa ab – das wenigstens verriet mir der ohrenbetäubende Lärm, der ohne Zweifel von unten kam. “Mein Gott“, dachte ich, “wenn es hier oben schon so höllisch laut ist, dann wird mir der Krach unten garantiert das Genick brechen.“

“Weißt du, wo ich hier das nächste Bad finden kann“, fragte ich einen blonden Feger in dunkelblauem Samtkleid, unter dem sich eine mehr als passable Figur mit beachtlichen Titten abzeichnete. Ich bedachte das Mädchen mit meinem breitesten Grinsen, das ich für charmant hielt. Sie ging nicht darauf ein. “Den Flur eintlang, bis ganz nach hinten und dann die fünfte Tür links“, sagte sie. -“Danke, Darling.“ Sie war schon wieder verschwunden.

In dem riesigen Badezimmer, das ganz in sattes Rot getaucht war, wusch ich mir als erstes den Kotter vom Hemd, den ich mir zuvor draufgekotzt hatte. Danach schüttete ich mir jede Menge eisiges Wasser ins Gesicht, um diesem Abend zumindest zu Beginn würdig gegenüberzutreten.

Im Spiegel nahm ich ein müdes, verlebtes Gesicht wahr – zu schmalen Schlitzen verengte Augen, die durch zentimeterdicke Gläser in die Welt blinzelten, eine reichlich schiefe Nase und etliche Pickel an Kinn und um den Mund. Nicht eben das Sinnbild des feuchten weiblichen Traums zahlreicher schlafloser Nächte. Ich griff mir die nurmehr halbvolle Brandyflasche und stiefelte wieder raus.

“Und wer bist du“, hörte ich mich eine glockenklare und etwas zu helle Stimme fragen. Dieses Organ gehörte zweifellos der Gastgeberin, die mir Georg auf der Fahrt hierher in allen Einzelheiten beschrieben hatte. Tatsächlich war sie von dieser makellosen, atemberaubenden Schönheit, wie man sie mir geschildert hatte.

Ich stellte mich artig vor. Ich wollte es mir nicht gleich am Anfang mit der Gastgeberin verspielen. Schließlich hatte ich vor, mir auf ihre Kosten den Magen vollzuschlagen und mich anständig zu betrinken. Auch ansonsten hätte ich gerne etwas mit ihr vorgehabt.

Ich drückte ihr den Brandy in die Hand. “’tschuldige, dass er nicht mehr ganz voll ist – ich hatte ’nen unglaublichen Durst vorhin.“

Sie lächelte charmant, ehe sie sich von mir abwandte, um die schmale Wendeltreppe zum Keller runterzusteigen. Dieses Lächeln war immerhin ein Anfang.

Ich folgte ihr und bestaunte währenddessen ihren grandiosen, drallen Hintern, der in schwungvoller Eleganz dreist hin- und herschlenkerte, begehrlich verpackt in eine hautenge, blütenweiße Jeans. Obenrum trug sie den Hauch eines Oberteils, in schreiendem Rot, das mich anzulachen schien. Ich spürte, wie sich von ganz tief unten in meinem Körper jemand zu Wort meldete.

Dann wankte ich in den Kellerraum, der mit ’ner schauderhaften Blümchentapete verkleistert war. “Hi“, meinte ich, so laut wie eben möglich, aber niemand antwortete mir. Keiner würdigte mich eines Blickes. Vielleicht hatten sie mich nur einfach nicht gehört, denn der DJ hatte soeben von Electro auf Tekkno umgeschaltet und jetzt zerfetzte ein Stroboskop die Welt in Tausende kleiner Bilder, die zusammengesetzt ein zeitlupenartiges Abbild der Wirklichkeit widergaben. Als das Blitzlichtgewitter vorbei war, sah ich jede Menge gestylter Knaben mit chicen Mädchen tanzen, denen sie mit ihren strahlend-weißen, gebleckten Zähnen entgegengrinsten. Die Mädchen grinsten mit ebenso makellosen Zähnen zurück. Die Welt war wohl in Ordnung. Ich hatte immer noch einen stehen.

In dem großzügigen Raum mit der niederen Decke lagen jede Menge Matratzen verstreut, und auf einigen von ihnen kauerten – von den Tänzern häufig mit Fußtritten attackiert – engumschlungene Päarchen, die knutschten und sich wild befingerten. Shit, alles war genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte! Es war ekelhaft. Gleichzeitig pochte mein Kleiner jetzt wie wild gegen die Innenwand meiner Jeans.

’ne ganze Weile stand ich an der Kellertüre rum, starrte, grinste und benahm mich auch ansonsten wie ein Vollidiot. Schließlich drückte mir irgendjemand den Türknauf ins Kreuz, so dass ich aus meiner Lethargie erwachte und meinen Arsch in Bewegung setzte.

In der hintersten Ecke des Kellers war ein Tisch, um den sich ein paar Jungs versammelt hatten, die würfelten. Nach jedem Spiel mußte der Verlierer einen Zahnputzbecher Whiskey leermachen. Unter den Kerlen befand sich auch Feldadler. Seinem Gesichtsausdruck nach mußte er schon reichlich oft verloren haben. Von Georg war weit und breit keine Spur.

Ich ließ mich auf einer dieser Matratzen neben ’nem ganz akzeptabel aussehenden Mädchen nieder, schnappte mir eine Sherry-Pulle, die in Reichweite gestanden hatte, entkorkte sie und ließ ’nen endlosen Schluck meine Kehle entlanggleiten. Sofort überkam mich die große Depression. “Feiertage“, dachte ich, “sind ’ne verschissene Angelegenheit. Menschen, die sich zusammenrotten, gegenseitig auf die Schultern klopfen und vorgeben, gut drauf zu sein.“ Oh, wie ich Feiertage hasse! Ich setzte die Flasche erneut an meinen Hals.

“Du solltest nicht soviel trinken, das bringt doch nichts“, klärte meine Nachbarin mich auf. -“Und was bringt d i c h hoch“, blaffte ich sie an. Eisiges Schweigen zwischen uns. Ich versuchte einzulenken: “Schau mal, wir haben nicht viele Möglichkeiten auf diesem Planeten“, sagte ich. “Ich meine, wir machen uns immer kaputt, auf die eine oder andere Weise. Das ist von der Natur so vorgesehen. Der eine säuft, der andere spritzt, wieder ein anderer betet den ganzen Tag und manche vögeln rund um die Uhr, um ihrer Existenz einen Sinn zu verpassen. Nichts davon ist wichtig.

Aber wir sind reduziert in der Möglichkeit, uns den richtigen Kick zu verpassen. Ich habe mich für das Trinken entschieden – die simpelste Methode, mich langsam umzubringen. Drogen zu bekommen, ist anstrengend, beim Beten wüßte ich nicht zu wem und Vögeln so ganz alleine ist auch nicht das Maß aller Dinge.“ Sie starrte mich mit großen Augen an – wie ein Zoobesucher das Tier, das besondere Kunststücke vollführt. “Aber s o schlimm ist das Leben doch auch nicht“, stammelte sie schließlich. “Ich zum Beispiel...“ Ihr goldenes Kreuz um den Hals funkelte mich grimmig an. Ich wußte schon, was gleich kommen würde. “Okay“, sagte ich cool, “wir sollten bumsen. Auf der Stelle.“

Ich wollte ihr gerade an den Oberschenkel greifen, aber da hatte sie sich aufgesetzt und auf ’ner anderen Matratze niedergelassen. Ihr rasender Blick signalisierte: Komm ja nicht zu mir rüber. Ich war der Aussätzige, das Böse in Person, das Alien. Und ich wußte: Wenn ich so weitermachte, war meine Chance, auch nur auf fünf Meter Entfernung an eine Frau ranzukommen, weniger als Null. Es war immer dieselbe Geschichte: Ich wollte ficken, aber ich wollte nichts dafür tun. Keine Vorarbeit leisten – einfach nur schweigend mein Ding in einer Öffnung versenken, es irgendwann wieder herausholen und mich danach so verhalten, als sei nichts passiert.

Natürlich war das traurig. Das ganze Leben war gottverdammt traurig. Eine Farce. Ein einsamer, schlechter Witz. Ich wußte das längst. Aber alle anderen um mich rum taten, als ginge sie das nichts an. Tat es vielleicht auch nicht. Doch auf so einer Basis konnten keine Gespräche entstehen. Schon gar keine Anmache. Die Menschheit und ich, wir würden nie zusammenkommen.

Es gab nichts mehr zu reden. Das hatte ich klar und deutlich erkannt. Alles war schon viele Millionen mal vorher gesagt worden, vermutlich treffender. Was blieb da noch?

Ich griff mir wieder die Sherry-Flasche, nahm einen weiteren tiefen Zug. Ich spürte, wie meine Magenwände zusammenklebten. Nein, ich wollte das nicht mehr in Kauf nehmen! Dieses alberne Rumschwadronieren, um jemanden auf die Matte zu zerren. Ich würde mich ausklinken. Auf der Stelle.

Ein weiterer Schluck Sherry bestätigte mich in meiner Meinung. Ich schaute auf die Uhr – kurz nach Zehn. Die Zeit war nichts als ein zäher Klumpen Blei, der nicht schmelzen wollte.

Ich wanderte in den Nebenraum, in dem ein riesiges, kaltes Buffett aufgebahrt stand, das nahezu kahlgefressen war. Ich kam mir vor wie im Leichenschauhaus: Vereinzelt lagen noch kalte Spare Ribs auf den Silberplatten, welke Salate, lauwarme Fleischklößchen, zermatschter Fruchtcocktail. Es sah verflucht obszön aus.

Es gab kein sauberes Geschirr mehr, also befreite ich einen benutzten Pappteller notdürftig von Essensresten, ebenso ein Paar von dem Plastikbesteck. Dann häufte ich mir auf. Ich türmte alle verbliebenen Reste auf meinen Teller. Als ich fertig war, betrachtete ich mein Menu. Das sah aus wie schon mal gegessen. Eklige Brauntöne verloren sich in gräßlich mürbem Grün. Eine gewagte Kombination für meinen eh schon angeschlagenen Magen.

In diesem Moment hieb mir jemand mit voller Wucht auf den Rücken. Natürlich flog mir der Teller aus der Hand und klatschte auf den Teppichboden. Georg.

“Na, wie gefällt’s dir, alter Junge“, fragte er mich, breit über’s ganze Gesicht grinsend. Er hatte allen Grund zu grinsen: in seinem Arm räkelte sich eine dunkelhäutige Schönheit mit Beinen bis zum Himmel, den Rest des Körpers in einem tiefdekolltiertem, weinrotem Kleid verhüllt. Ihre Brustwarzen starrten mich neugierig und gleichzeitig aggressiv durch eine riesige, auf das Kleid gemalte Mohnblume an. Ich war bereit, mich hypnotisieren zu lassen. Als ich wie in Trance hinfassen wollte, schob die Dunkelhäutige sanft, aber bestimmt meine Hand weg.

“Bin noch am Warmlaufen, Mann“, sagte ich zu Georg und tat, als sei nichts passiert. Voll Wehmut blickte ich auf den Matsch am Boden, der hoffnungslos unter dem Pappteller begraben lag. -“Ah, du wirst das schon hinkriegen“, meinte er. Dabei drückte er die Dunkelhäutige noch enger an sich und steckte seine Rechte in ihren Ausschnitt. Sie quiekte vor Vergnügen. “Klar, Mann, klar“, sagte ich. Dann wandte ich mich wieder dem Buffett zu. Doch ich hatte saubere Arbeit geleistet – es war absolut nichts mehr davon übriggeblieben.

Mit knurrendem Magen ging ich zurück zu den Tänzern und Knutschern. Irgendwann fand ich mich neben einem schlauen Langweiler wieder und unterhielt mich mit ihm über die französische Literatur des ausklingenden 17. Jahrhunderts, über Sinologie und ähnlichen Unsinn, bis plötzlich einer von den Jungs aufstand und brüllte: “Ey, Mannschaft! Fünf vor Zwölf! Laßt uns zum Anstoßen nach draußen gehen!“

Alle standen auf und schlichen wie die Lemminge in ein kleines, unbeleuchtetes Nebenzimmer, in dem ihre Mäntel und Jacken auf eine Couch getürmt lagen. Jeder wühlte herum – ich wühlte mit, obwohl ich meinen Mantel die ganze Zeit über nicht abgelegt hatte. Ich nutzte die Dunkelheit, um einigen Mädchen verstohlen zwischen die Schenkel oder an die Brüste zu fassen. “Mein Gott“, dachte ich nur, “wo soll das mit mir hinführen?“

Zwei vor Zwölf versammelten wir uns vor der Eingangstür, ein paar Jungs zündeten Leuchtraketen oder warfen den kreischenden Mädchen Knallkörper zwischen die Beine, andere beobachten unentwegt die Sekundenzeiger ihrer Uhren, wieder andere – wie ich – nuckelten verstohlen an den Pullen mit billigem Sekt. Ich kauerte inmitten ’ner Horde von johlenden, verrücktspielenden, beschissenen Menschen und erwartete das neue Jahr. Tatsächlich fühlte ich mich verdammt elend und einsam.

Scließlich schlug eine mächtige Glocke Mitternacht, es krachte wild und ohrenbetäubend von allen Seiten, die ganze Welt schien aus dem Leim zu gehen. Ich hätte in diesem Moment nichts dagegen gehabt. Danach lagen sich alle in den Armen, während der Himmel in unwirklichen Farben erstrahlte. Wir schlürften den billigen Sekt und gaben uns Küsschen und ich hatte größte Mühe, mich nicht zu übergeben. “Wenn ein Jahr so beginnt, hast du schon verloren“, dachte ich.

Ich hatte mich bereits ein gutes Stück durch die Partygäste geküsst, als die Gastgeberin vor mir stand. Sie drückte sich an mich, atmete heftig und dann knutschten wir ’ne lange Weile. Meine Rechte bahnte sich ganz langsam den Weg zu ihren drallen Arschbacken, an denen sie sich festhakte.

Irgendwann wollte sie sich mir entwinden, aber ich klammerte weiter. Plötzlich gab sie mir ’ne Ohrfeige und ließ mich stehen. Ich blickte nicht recht durch. Auch nicht in meinem Suff. Ich stand einfach nur da, rieb gedankenverloren meine glühende Wange und wußte nicht weiter. Was war passiert?

Schließlich spürte ich die eisige Kälte, die langsam meine Beine emporkroch und so marschierte ich zurück in die Wohnung, um mich aufs Klo zu begeben. Als ich die Tür öffnete, sah ich Feldadler über der Schüssel hängen, der sich gerade übergab. Ich schloß die Tür wieder und wartete. Nach einigen Minuten kam er raus, von Erbrochenem übersät. “Ein gutes neues Jahr“, meinte ich. -“Ah, ja?“ Er starrte mich mit irren Augen an. Dann ging er an mir vorbei. Ich spülte seine Kotze runter, ehe ich mich selbst übergab.

Unten im Keller waren wieder alle versammelt, sie schrien, viele tanzten und ein paar Jungs hatten sich zu prügeln begonnen. Die Gastgeberin kauerte vor dem Mischpult des Discjockeys und hielt sich an ’ner Weinbrand-Pulle fest. Sie sah nicht unbedingt glücklich aus. Ich nahm ihr den Weinbrand aus der Hand, stellte mich neben sie und genehmigte mir einen Schluck.

“Sag mal, warum hast du mir vorhin dieses Ding verpasst?“ Sie gab mir ein bescheuertes Lachen zur Antwort. –“Hast du Lust, von mir gefickt zu werden“, fragte ich sie in völlig ruhigem Tonfall. Diesmal lachte sie nicht.

Ich fasste ihr Schweigen als Zustimmung auf, zog sie aus ihrer Hocke hoch und versuchte, sie zu küssen. Sie öffnete ihre Lippen keinen Millimeter. Das war mir egal, ich ließ mich nicht entmutigen. Ich schnappte mir einen Arm und versuchte, sie ins unbeleuchtete Nebenzimmer zu zerren, in dem die Mäntel lagen. Plötzlich fing sie zu brüllen an: “Er hat mich gefragt, ob ich mit ihm ficken will! Hey, er will mit mir ficken!“ Sie lachte hysterisch. Doch keiner nahm mehr etwas wahr. Niemand schien sich für uns zu interessieren.

Endlich waren wir im Nebenzimmer. Ich knallte mit dem Fuß die Tür hinter uns zu, baute mit einer Hand aus zwei Mänteln eine Unterlage, mit der anderen Hand schubste ich sie sachte darauf. Nebenan dröhnte “My Generation“ von den Who. Na also, es ging ja auch anders mit der Musik...

Ich rollte die nicht mehr so ganz blütenweise Jeans über ihren Hintern, dicht gefolgt von ihrem Slip. Sie lag einfach nur da wie ein totes Stück Fleisch und gab nicht die geringste Regung von sich. Sie ließ alles mit sich geschehen, sagte kein Wort, wehrte sich nicht. Es kam mir vor, als würde ich ’ne Leiche ausziehen, um ihr die letzte Waschung zu verpassen. Ich spürte, wie meine Erregung innerhalb von Sekunden in den tiefsten Keller sank.

Dann knöpfte ich mir mit einer Hand die Hose auf, mit der anderen drückte ich ihre feisten Schenkel auseinander. “Schönes neues Jahr“, sagte sie mit einem Mal. Sie lachte schon wieder. Mir wurde schlagartig klar, dass ich nie im Leben einen hochbringen würde. Es war nicht der viele Alkohol in meinem Körper, der mich daran hinderte – das ganze machte einfach keinen Sinn. Ich hatte mich in eine Situation manövriert, der ich nicht mehr gewachsen war.

Trotzdem warf ich mich auf sie, knutschte ein wenig an ihrem Hals rum, streichelte ihre Oberschenkel, ihre Pussy. Sie wurde feucht, stöhnte. Mit wachsender Verzweiflung rieb ich an meinen schlaffen Ding rum. Kein Weg, der zu ihr führte.

Ich spürte ihre Augen in der Dunkelheit, die mich anstarrten, mich verspotteten. Unter ihnen schrumpfte ich zu dem Wurm, der ich in diesem Augenblick war. Schließlich stand ich mit einem Ruck auf, knöpfte mir mit zitternden Fingern die Hose wieder zu, ging aus dem Zimmer und schloß leise die Tür hinter mir. Ich ließ sie nackt, schutzlos und alleine in dem Zimmer zurück. Ich drehte mich nicht mal mehr nach ihr um.

“Ey, Mann – laß uns von hier verschwinden!“

Ich hatte Georg in einer Ecke des großen Raumes entdeckt. Seine riesige Pranke hatte sich einen Weg unter das Kleid der Dunkelhaarigen gebahnt , er bearbeitete sie schwer. “Ah, fick dich innen Arsch – du spinnst wohl!“ Er wandte sein Gesicht wieder von mir ab und beschäftigte sich weiter mit der Lady unter ihm.

In diesem Moment fiel mein Blick auf Feldadler. Er kauerte alleine an dem Tisch, an dem er zuvor mit den Jungs gewürfelt hatte. An seinem Hemd klebte immer noch der Kotter. Sein Gesichtsausdruck verhieß abgrundtiefe Traurigkeit.

“Hi, Thomas“, sagte ich und schenkte ihm mein warmherzigstes Lächeln. Er winkte mir müde mit seiner linken Hand zu. Ich hockte mich neben ihn auf einen der Stühle. “Irgendwelche Probleme“, fragte ich ihn. –“Nur eines“, antwortete er. “Und das bin ich.“

Ich war schwer beeindruckt. Vorsichtig legte ich ihm einen Arm um die Schulter. Er entwand sich mir. “Laß es bleiben“, meinte er nur. Ich schaute ihn mir von der Seite an. Über sein ganzes Gesicht verlief eine endlose Spur aus Tränen. “Irgendwas Spezielles passiert“, fragte ich. - “Wie immer“, murmelte er.

“Was soll das heißen – wie immer?“ -Mit einem Ruck stand er auf. “Das heißt im Klartext, dass alle meine Nächte so enden wie diese. Ich sitze alleine rum, mit vollgekotztem Hemd.“ Er setzte sich wieder hin, erschöpft und kraftlos. Ich versuchte es erneut mit meinem Arm. Diesmal ließ er ihn auf seiner Schulter. “Ich kenne das Gefühl, Mann“, sagte ich. “Aber es hat nichts zu bedeuten. Wir sind nicht die Verlierer, auch nicht mit vollgekotztem Hemd. Wir sind nur die anderen. Das ist hart, aber man gewöhnt sich mit der Zeit daran. Du mußt dir lediglich einreden, dass du sie alle durchschaut hast.“ Ich machte eine lange Pause. Dann seufzte ich. “Ich denke, wir sind sowas wie Blutsbrüder.“

Feldadler starrte mich an. “Du bist ja besoffen“, sagte er. “Ändert das etwas an den Tatsachen“, fragte ich ihn. Stumm saßen wir eine ganze Weile da. “Soll ich dich nach hause bringen“, fragte er mich schließlich. -“Was für ’ne großartige Idee, Mann.“

Ich fand eine ungeöffnete Sektpulle und klemmte sie mir unter die Achsel. Dann schob ich mich durch die Kellertür und nach draußen, Feldadler hinter mir her. Ich quälte mich die Stufen der Wendeltreppe hoch. Endlich war ich am Ausgang. “Ciao, Arschloch“, sagte eine Stimme. Sie klang hysterisch und viel zu hoch. Ich wußte Bescheid.

Draußen hatte es wieder angefangen zu schneien. Die Flocken tanzten elegant um meinen Kopf. Mit einem Mal war ich prächtiger Laune. Ehe ich mich neben Feldadler in den Kadett quetschte, entkorkte ich die Pulle. Der Sekt hinterließ eine merkwürdige Form auf der Schneedecke. Sie sah aus wie ein äußerst eigenwilliges Herz. “Prost“, sagte ich zu Feldadler, während ich die Flasche an meine Lippen setzte. “Alles klar“, meinte er und startete den Motor. Gemeinsam machten wir die Pulle auf der Fahrt zu meiner Bude leer. Tom Waits gab uns krächzend den Takt vor.

In meinem Zimmer war es eisig kalt. Zitternd und völlig ausgelaugt hockte ich mich erstmal auf mein Bett. Mit einem Mal spürte ich, wie mein Magen schon wieder hochkam. Ich stürzte aufs Klo und übergab mich erneut. Als ich fertig war, kauerte ich vor der Schüssel und lachte und lachte. Schließlich erhob ich mich und starrte in den verschmierten Badezmmerspiegel. Ich sah ein hohles, aufgeschwemmtes Gesicht. “Gutes neues Jahr, Mann“, sagte ich und grinste.

Das Telefon klingelte. Ich überlegte lange, ob ich rangehen sollte. Ich hatte keine Lust auf Neujahrswünsche. Von niemandem. Dann gab ich mir einen Ruck.

“Hallo, Mick?“ Die Stimme klang verzerrt und verdammt weit weg. Hatten die Außerirdischen schon Telefon? War der Tod weiblich? “Ja“, krächzte ich zurück. “Hier ist Maria – du weißt schon, das Mädchen aus Italien, damals in Florenz. Wir haben uns im Uni-Park kennengelernt, im Sommer, du hast mir den Rücken mit Sonnenöl eingecremt. Du erinnerst dich?“

Mein Herz schlug mit einem Mal etliche Takte schneller. Ob ich mich an sie erinnerte – was für eine Frage! Tatsächlich hatte ich weitaus mehr getan, als ihr den Rücken eingecremt. Aber es stimmte, so hatten wir uns kennengelernt. Viel zu wenig übrigens, für meinen Geschmack – mein Urlaub war zu Ende, ehe er richtig begonnen hatte. Wenigstens, was Maria betraf. Das war im Sommer vor zwei Jahren gewesen. Ich hatte seitdem nichts mehr von ihr gehört.

“Klar, Maria“, presste ich hervor, “klar erinnere ich mich an dich.“ Ich hörte mich in die Muschel stottern. “Was zum Teufel“, fragte ich mich, “veranlaßt ein so bezauberndes, intelligentes Geschöpf, einen Idioten wie mich anzurufen? Hatte sie nichts besseres zu tun?"

Hatte sie offensichtlich nicht. Mir war es recht. Wir unterhielten uns lange, wärmten die alten Zeiten wieder auf. Ich machte ihr ein paar lausige Komplimente und es kam mir vor, als würde sie sich tatsächlich darüber freuen. Mein Gott, wie herrlich! Wie einfach und amüsant das Leben gelegentlich sein konnte!

“Hör mal, Maria“, meinte ich plötzlich, “wo steckst du im Moment? In deiner Bude?“ -“Ja“, sagte sie, “bin soeben von ’ner stinklangweiligen Fete zurückgekommen.“ Aha, die weltweite Silvesterkrankheit! “Paß auf“, fuhr ich fort, “was hältste davon, wenn ich mal eben kurz zu dir rüberschaue?“ Langes Schweigen in der Leitung. Ich hörte nichts als Knacken und Rauschen.

“Wie meinst du das, mal kurz zu mir rüberschauen“, fragte sie. -“Ich meine, dass ich mich auf der Stelle in mein Auto schwinge, auf den Weg mache und dich morgen mittag zum Essen ausführe. “ -“Ich... ich...“ Ich ließ ihr keine Chance: “Keine Ausreden – ich bin schon unterwegs.“ Ich knallte den Hörer auf die Gabel, schmiß ein paar Klamotten in meine Reisetasche, warf einen flüchtigen Blick ins Portemannie. Alles war bestens!

Ich streifte wieder meinen NVA-Mantel über, knallte die Haustüre hinter mir zu, rannte die Treppen nach unten. Draußen schneite es unermüdlich weiter.

Ich schaufelte meinen alten Ford frei, dann klemmte ich mich hinter’s Lenkrad. Steckte den Zündschlüssel ins Schloß. Drehte rum. Der Motor heulte sofort auf. Nichts anderes hatte ich erwartet.

Natürlich hatte ich keine Ahnung, wie lange meine Karre durchhalten würde. Ob ich je Florenz zu Gesicht kriegte. Ob ich überhaupt irgendwo ankommen würde. Aber immerhin, ich hatte es versucht.

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GANZ WEIT UNTEN

Diesmal war ich ganz weit unten. Ich hockte seit zwei Wochen in diesem Nest an der Riviera, nur wenige Kilometer und doch endlos weit vom Meer entfernt. Ich ließ mich jeden Abend voll laufen und hatte keine Ahnung, was um mich herum geschah. Ich wußte nicht mal genau, warum ich hierher gekommen war, nach Italien, warum ich mir dieses billige Appartement gemietet hatte, unbefristet, und warum ich die Tage ins Land ziehen ließ, wahllos. Es war November, der schlimmste aller Monate in diesem Nest. Der November war grau und trübe und ohne Kontur. Mir war, als wäre ich im Niemandsland gestrandet. Alles schien zusammenzukommen. Ich wartete auf den großen Knall. Und wäre vermutlich als erster davongelaufen - weit, weit weg -, wenn es dazu gekommen wäre.

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, hier in Italien einen Roman zu verfassen, das definitive Dokument einer verlorenen Generation, meiner Generation. Doch seit ich hier war, hatte ich keine Zeile geschrieben, meine spärlichen Notizen hatte ich eines Morgens verbrannt, in einem Anfall von geistiger Abwesenheit. Statt zu schreiben hatte ich 50 Gramm Pulver über die Grenzen geschmuggelt, das ich mir jetzt hektisch in die Nase schaufelte, Tag für Tag, Stunde für Stunde. Ich wurde immer paranoider. Und mein Vorrat war bereits nach den zwei Wochen, die ich hier feststeckte, erschreckend reduziert. Mich befiel Panik, wenn ich nur daran dachte, dass ich eines morgens aufwachen und die letzte Line dieses Wahnsinnszeugs schnupfen würde.

Außer zu schnupfen, hockte ich Abend für Abend in den wenigen, stets billigen Kaschemmen dieses Orts rum, in den es mich verschlagen hatte, ich stopfte billiges Essen in mich rein, schlürfte billigen Wein und alle 30 Minuten verschwand ich im stinkenden Scheisshaus und hackte mit stumpfer Rasierklinge das weiße Gift klein. Wenn das Pulver in meinem Hirn explodierte, war mir alles egal. Ich war böse, die Welt sowieso und nichts hatte irgendwie Bedeutung. Ich würde sterben, demnächst. Das einzige, was ich gegen die Angst vor dem Sterben tun konnte - weitermachen wie bisher und fiebrig auf mein Ende warten.

Nichts passierte. Alles ging seinen Gang. Das Kaff war so unsäglich langweilig, dass die Hölle dagegen ein Kurort sein mußte. Und das Kaff machte mich fertig, weil es nichts zu bieten hatte. Nichts, was mir irgendeine Genugtuung verschafft hätte. Doch wer nicht mehr weiß, wohin, für den war es aus. Völlig aus. Das immerhin wußte ich. Nein, nichts war so, wie ich es erwartet hatte. Bis mir eines Tages klar wurde, dass ich nie etwas erwartet hatte.

Auf einer meiner allabendlichen ziellosen Wanderungen durch das Kaff entdeckte ich das "Canelupo". Wahrscheinlich war es der Name, der mir gefiel und mich zu dieser Kneipe hinzog. Viel wahrscheinlicher aber waren es die pure Langeweile und die Stumpfheit meines Geistes, die mich anlockten. Endlich etwas neues, anderes in diesem Hort der Ödnis. Zumindest für eine Nacht konnte ich mir einreden, dass sich an meiner grässlichen Existenz etwas änderte, dass mein Lebensfluß mächtige Wellen schlug, anstatt langsam im Morast zu versickeren. "Canelupo".

Sie hatten Eröffnungsparty an diesem Abend - neuer Laden, Neubeginn. Ich ging rein und in der Tat war dieser Schuppen anders als die anderen Kaschemmen im Ort: Es gab mehr Licht dort, an den Wänden hingen Autoreifen und Motorradfotos statt der üblichen Marienbilder oder Barockrahmenscheußlichkeiten und aus den Lautsprechern an den Wänden dudelte Schweinerock aus den 70ern statt der italienischen Kitsch-Balladen, die einen erst recht zum Glas greifen ließen. Na ja, immerhin.

Es war gegen 8 und der Laden brummte. Klar, es war der erste Abend, das Volk war neugierig. Das "Canelupo" bot Platz für vielleicht 80 Leute und die waren da - alle aus dem Ort, die unter 30 waren und vermutlich noch ein paar Typen im selben Alter aus den Nachbarkäffern. Ich hatte in den letzten zwei Wochen noch nie so viele Menschen auf einem Haufen gesehen. Vermutlich würde ich nicht mal in der Kirche am Sonntagmorgen mehr Menschen zu Gesicht kriegen. Das immerhin bedeutete etwas in dieser Stadt.

Schade nur, dass kaum Frauen in der Pinte waren. Sie hätten das Gesamtbild weiter positiv abgerundet. Die wenigen Schnepfen im "Canelupo" hatten sich an die Lederjacken ihrer Jungs gehängt, die wie immer große Reden schwangen und jede Menge Bier in sich rein schütteten. Es war in jeder Kneipe dieselbe Scheiße, überall auf diesem lausigen Planeten. Und ich mittendrin.

Das Mädchen hinter dem Tresen hatte an diesem Abend eine Menge zu tun: Biere zapfen, Gläser vollmachen, Schalen mit Chips und Erdnüssen füllen. Sobald das Tablett sich unter der Last bog, kam ein Typ um die 30 am Tresen vorbei, mit öligem Haar, das in einem Pferdeschwanz endete, außerdem mit einer beachtlichen Wampe, nur notdürftig verdeckt durch eine schmuddelige Schürze. Schmierlappen lud sich das Ding auf die Schultern, um gleich darauf die Gläser und Schalen nach links und rechts auf die Tische zu verteilen. Auf meinem Tisch, den ich mit einer Handvoll kichernder Teenager teilte, landete eine Karaffe mit dem Weißwein des Hauses. Gut so.

Ich beobachtete das Mädchen hinter dem Tresen, das unermüdlich an der Arbeit war, maschinenhaft, es gönnte sich keine Pause und auch kein Lächeln. Nur ein einziges Mal wurde das Mädchen in seiner Tätigkeit unterbrochen, als der Kellner ihr einen dicken Kuß mitten auf die Lippen verpasste. Sie ließ es geschehen, stoisch, um sich gleich darauf wieder um die Zapfanlage zu kümmern.

Das Mädchen war beinahe so kalkig weiß wie die Wand, vor der es sich in Position gebracht hatte. Nur der feuerrote Lippenstift durchbrach ihre Bleichheit sowie das ärmellose schwarze Kleid, das sie sich über den knochigen Körper gestülpt hatte. Das Rot ihres Lippenstifts blinzelte mir bösartig zu. Außerdem kam es mir vor, als würden die Augen des Mädchens mich pausenlos anstarren, tiefblaue Seen, die eine kühle Erotik aussandten, welche mich frösteln ließ. Ich spürte, wie die Paranoia wieder meine Seele im Würgegriff hielt. Es war Zeit für eine neue Prise weißes Gift. Ich machte mich auf den Weg zu den Toiletten.

An der Pissrinne stand niemand, dafür waren die fünf Scheisshäuser durchgehend besetzt. Mein geschultes Gehör kriegte mit, wie aus jeder Kabine das Geräusch von Rasierklingen auf Spiegelglas drang, gedämpft und monoton. Ich mußte grinsen, zum ersten Mal seit langem. Schien, dass ich nicht alleine in der Hölle schmorte. Selbst in einem winzigen italienischen Kaff stieß ich auf meinesgleichen. Der Arm des Teufels reichte weit.

Die Typen in den Kabinen sollten mich am Arsch lecken. Ich war so gierig auf das Pulver, dass ich mir zwei dicke Linien davon auf dem Waschbecken klein hackte und wie wild in mich reinschniefte. Den Rest tupfte ich mit meinem Zeigefinger auf und rieb ihn mir aufs Zahnfleisch. Das Zeug knallte sofort ins Hirn. Ich fühlte mich wie Dr. Jeckyll, der sich in diesem Moment in Mr. Hyde verwandelte. Es war eine wüste Metamorphose, die das Leben als solches jedes Mal wieder in Frage stellte.

Ich ging weg von den Scheisshäusern und zurück zu meinem Tisch. Sobald ich auf meinem Stuhl saß, kam es mir erneut so vor, als würden sich Augen tief in meinen Rücken bohren. Ich wandte den Kopf in Richtung Tresen und sah die Bleiche. Sie tat das, was sie den ganzen Abend getan hatte - Gläser und Schalen füllen. Doch ihr Blick war auf mich gerichtet, keine Frage. Ich hatte keine Ahnung, wie ich darauf reagieren sollte. Zunächst mal genehmigte ich mir einen großen Schluck aus meiner Karaffe. Mein Herz schlug einen rasenden Takt und das Pulver in meinem Hirn schien einen Tango zu tanzen.

Ja, ja, ja, ich war scharf auf die Bleiche. Ich wollte sie berühren, quetschen, ficken, ich wollte sie haben. Ich wolte auch weißes Pulver, unendlich viel davon. Ich wollte es reinschaufeln in meine Nasenlöcher, solange, bis mir davon der Schädel platzte. Ich wollte böse sein. Ich wollte Gott sein. Ich wollte leben. Ich wollte sterben. Ich wollte alles auf einmal. Und noch eine ganze Menge mehr.

Ich winkte den Schmierlappen zu mir heran und gab eine neue Karaffe in Auftrag. Unruhig wetzte ich meinen Arsch auf dem Stuhl hin und her. Gehen und bleiben war eins. Keine Ahnung, wo meine Seele Ruhe finden würde. Mich nervte dieses ewige Geraune der Stimmen um mich rum, die sich dumme kleine Geschichten aus ihren dummen kleinen Leben erzählten. Scheisse, war diese Welt doch ein trostloses Pflaster!

Schmierlappen brachte die Karaffe und ich drückte seine Schulter weit genug zu mir herunter, dass sein Ohr in Höhe meines Mundes war. "Wo kann man hingehen, wenn man einen drauf machen will - tanzen, toben, trinken und den ganzen Mist", fragte ich ihn. "Geh ins "Bulldog", vielleicht 20 Kilometer von hier entfernt, das ist eine Disco direkt am Meer", meinte er. "Die haben da bis morgens um Sechs offen." Und dann: "Sag mal, gefällt's dir nicht in meiner Kneipe", fragte er und wirkte dabei beinahe betreten. "Der Laden ist große Klasse", gab ich zurück, "doch für mich ist er nicht weiter als ein Anheizer." -"Naja, das ist besser als nichts, stimmt's", grinste er mich an. "In der Tat, besser als nichts", bemühte ich mich gleichfalls um ein Grinsen.

In der nächsten Viertelstunde war ich damit beschäftigt, den Inhalt der Karaffe in mich reinzugießen. Ich spürte, wie sich eine mächtige Klarheit in meinem Hirn breit machte, die nicht viel mit der Wirklichkeit um mich rum zu tun hatte. Es war ein grandioses Gefühl, doch natürlich wußte ich längst, dass es nicht von Dauer ist. Eine brillante Illusion, ehe du frontal gegen die Wand fährst. Also machte ich mich nochmals auf den Weg zu den Kabinen, ehe ich irgendwie zum Meer runterkommen wollte. Diesmal waren alle Kabinen frei.

Als ich zurück in den Schankraum stolperte, fühlte ich mich wie die Lichtgestalt des Abends. Ich war unbesiegbar, alle Türen standen mir weit offen, keine Möglichkeit mußte lediglich geträumt werden. "Wie lange mußt du noch hier arbeiten, heute nacht", raunte ich der Bleichen zu. "Ich muß nichts", raunte sie zurück. "Dann hör mit diesem Mist auf und komm mit mir ins "Bulldog", damit wir eine richtige Party feiern können", grinste ich ihr aufmunternd zu. "Ich weiß, wo du steckst", gab sie knapp zur Antwort und zapfte bereits das nächste Bier. Jetzt war mir klar, wie ich dran war, in dieser Nacht. Es war Zeit, mich zu verpissen.

Draußen schlug mir lauer Wind entgegen, immer noch angefüllt von der Hitze eines erschreckend warmen Novembertages. Das Wetter hatte an diesem Morgen einen überraschenden Umschwung erlebt, der konturlose Nebel war von der Sonne zum Erliegen gebracht worden, die kräftige Strahlen ausgesandt hatte, vielleicht die letzten in diesem Jahr, wer konnte das wissen? Gegen 10 hatte ich etwas ratlos und verhalten glücklich aus dem einzigen Fenster meines winzigen Appartements geglotzt und dieses Wunder bestaunt, während ich die erste Line hackte. Ich hatte nicht glauben wollen, dass die Sonne sich in diesem Kaff blicken ließ, zum ersten Mal, seit ich hier gestrandet war. Aber es war geschehen. Doch am Vormittag war noch nicht klar gewesen, was ich mit diesem Wunder anfangen sollte. Ich hatte den Tag verbracht wie all die vorigen auch. Jetzt aber freute ich mich wie ein Narr, dass ein lauer Wind meine Nase umspielte.

Ich kannte den Weg Richtung Meer. Bislang war ich ihn nie gegangen, doch jetzt würde ich ihn einschlagen, geradewegs. Ich würde die acht oder neun Kilometer dorthin laufen und dann dem gleichmäßigen Gemurmel der Wellen zuhören, würde auf Geschichten lauschen, von denen ich nicht viel wußte, die aber immerhin eine besänftigende Wirkung auf erhitzte Gemüter haben. Ruhige Geschichten vom ewigen Kreislauf der Erde. Keine Ahnung, wie lange ich die aushielt. Ich würde das einfach mal abchecken.

Meine Füße bewegten sich von selbst vorwärts, so dass mein Hirn sich ganz auf die Euphorie des Giftes wie dieser magischen Nacht konzentrieren konnte. Ich war glücklich, ohne Zweifel, selbst wenn mir die Begrenztheit dieses Glücks längst klar war. Für einen Augenblick des Glücks bezahlte ich einen hohen Preis, doch ich war bereit, ihn immer wieder zu bezahlen. Ich konnte mir meine Existenz nicht anders vorstellen. Mir war bislang nur nicht klar, ob diese Sucht nach kurzer Euphorie ein Spiel oder mein Leben als solches war.

Ich kam zügig voran auf meiner Wanderung runter zum Meer. Es war inzwischen sehr dunkel geworden um mich rum, die Nacht wurde nur durch einige Laternen am Straßenrand matt erleuchtet. Meine Augen richteten sich stur auf den Weg vor mir, von der Umgebung nahm ich nichts wahr. Wichtig war, dass ich nicht stolperte, während ich weiterhin meine Euphorie genoß, die unvermindert anhielt. Nur nicht stolpern, das hätte alles vermasselt. Und ich stolperte nicht, all die tausende Schritte nicht, bis ich nach einer Ewigkeit den Sand unter meinen Füßen spürte, endlich. Ich schleppte mich noch wenige Meter voran, bis ich das Meer mächtig murmeln hörte, stoisch, und dann ließ ich mich im Gehen auf die Erde fallen und lachte, lachte, lachte, während mir der Sand immer weiter das Gesicht verklebte, bis sich mein Lachen in Husten verwandelte.

Ich fand einen Liegestuhl, einsam und schäbig, den irgendjemand vergessen haben mußte, vermutlich noch im Sommer, ich plumpste in ihn rein und steckte mir genüßlich eine Kippe an, während ich vorsichtig nach dem Umschlag mit dem Pulver in meiner Jeansjacke tastete. Er war noch da. Ich würde das Zeug bald brauchen, dachte ich bei mir. Doch ich wollte das Hacken und Sniffen so lange als möglich hinauszögern, diesmal.

Keine Ahnung, wie lange ich in diesem Liegestuhl kauerte, um mir eine Zigarette an der anderen anzustecken, dem Gesang der Wellen zu lauschen und mir den Wind um die Nase pusten zu lassen. Irgendwann fröstelte mich, also wuchtete ich mich hoch, klopfte mir den Sand von der Jacke und machte einige unbeholfene Bewegungen, um meine Gelenke und Knochen wieder in Schuß zu bekommen. Ich war Anfang 30 und hatte das Gefühl, uralt zu sein, morsch und verbraucht. Es war kein schönes Gefühl. Ich hatte mir bis vor kurzem nie vorstellen können, im Bett zu sterben. Doch vielleicht war ich inzwischen näher an dieser Vorstellung dran, als mir lieb war.

Es war wieder mal an der Zeit für mich zu gehen. Ich watete die wenigen Schritte durch den Sand, ehe ich Asphalt unter die Füße bekam, dann suchte ich mir eine Parkbank, auf der ich das Gift hacken konnte, knallte mir eine gehörige Portion davon ins Hirn und stellte mich gleich danach auf die einzige große Straße am Meer, den Daumen steil nach oben gereckt.

Es war Freitag, es war Mitternacht oder später, es war die beste Zeit der Woche, um von hier möglichst schnell wegzukommen. Und in der Tat, ich mußte nicht lange warten, ehe ein völlig überladener VW-Bus neben mir hielt. Als ich die Seitentür mit einem Ruck nach hinten riss, dröhnte mir "Light My Fire" entgegen. Schien, dass man den Schweinerockern in Italien nirgends entkommen konnte.

Im Inneren des Busses lagen zwei riesengroße Matratzen, auf denen fünf Hippies hockten, die alle gleichzeitig auf mich einquasselten. Ich nickte stumpfsinnig mit dem Kopf in ihre Richtung, packte mich zu dem Haufen und ließ die Tür hinter mir ins Scharnier fallen. Irgendjemand reichte mir einen Joint. "Bulldog?", fragte ich in die Runde. "Bulldog!", brüllten sie zurück. Ich lehnte mich gegen die Rückwand des Busses und sog an dem Spliff.

Als ich irgendwann meine Augen nach vorne richtete, war mir, als wäre ich in einer Zeitschleife gelandet. Schmierlappen. Und die Bleiche. Schmierlappen hielt den Blick stur geradeaus, während er den Bus souverän chauffierte. Seine wichtigste Aufgabe schien darin zu bestehen, den Lautstärkeregler des Cassettengeräts je nach Song lauter oder leiser zu drehen. Die Bleiche hingegen hatte ihre Augen unverwandt auf mich gerichtet. Ich hätte einiges für eine Prise gegeben. Stattdessen sog ich ein weiteres Mal an dem Joint, bei dem ich schon wieder an der Reihe war. Die fünf Hippies quasselten wie gehabt wirres Zeug vor sich hin, bei dem sich das Hinhören nicht lohnte. Angestrengt suchte ich den Blick der Bleichen. Doch sie schien durch mich hindurchzusehen.

Der Bus stoppte, der Motor erstarb im nächsten Augenblick. Die Seitentür wurde von außen aufgerissen. "Wir sind da, Freunde", meinte Schmierlappen grinsend und in prächtiger Laune, "alle aussteigen, bitte." Wir schubsten uns gegenseitig ins Freie, lachend und voller Vorfreude auf eine endlose Nacht. Nur die Bleiche hatte sich ausgeklinkt, sie tippelte bereits vom Parkplatz, auf dem der Bus stand, weg und zum Eingang des "Bulldog" hin, der hell erleuchtet war. Ein riesiger Pulk Menschen tummelte sich davor.

Schließlich ließ man uns rein in diesen Laden, wir quetschten uns vorbei an zwei massiven Türstehern, deren Job es war, die Leute verächtlich anzusehen. Ich hatte es irgendwie geschafft gehabt, in der Schlange direkt hinter der Bleichen zu stehen und ließ wie nebenbei meine Rechte an ihren knochigen Hintern baumeln. Ich spürte, wie mir schmerzhaft einer stand. Ein Gefühl, das ich lange nicht mehr gehabt hatte. Ein Gefühl, das durch nichts zu ersetzen war. Ein Steifer. Und die Bleiche hatte in dem Gedränge keine Chance, ihren Hintern von meiner Hand wegzukriegen. Das alles begeisterte mich völlig.

Das "Bulldog" war stinkend und verräuchert, es erinnerte an den geschundenen Bauch eines Walfischs, an eine riesige verseuchte Höhle aus Holz, da die Decke nur ungefähr drei Meter hoch und der gesamte Club aus verschiedenen Holzsorten zusammen gezimmert war. Es kam mir vor, als würde ich mich in einem hölzernen Geburtskanal befinden, in dem mir Schritt für Schritt immer mehr die Luft abgedrückt wurde. Ich steckte mir erst mal eine Kippe an. Wenn schon ersticken, dann mit Genuss, sagte ich mir. Aus den Lautsprechern dröhnte viel zu laut "Born To Be Wild". Es schien, dass alle Besucher ihre Fäuste in die Luft reckten. Und da es keine offizielle Tanzfläche im "Bulldog" gab, bewegten die Menschen sich an Ort und Stelle spastisch zappelnd hin und her und schüttelten wüst ihre Gliedmassen durch.

Schon nach kurzer Zeit hatte ich Schmierlappen, die Hippies und die Bleiche im klaustrophobischen Getümmel verloren. Ich glaubte nicht, dass ich diesen Verlust bedauerte. Wichtig war, dass ich möglichst rasch raus fand, wo die Scheisshäuser waren. Alles andere würde sich von selbst ergeben. Ich wollte wach bleiben, euphorisch bleiben. Darauf kam es an. Auf nichts sonst.

Zielstrebig bahnte ich mir einen Weg durch die Massen, immer den Schildern mit den stilisierten Männchen und Weibchen nach. Mein Körper forderte dringend seinen Giftnachschub, weil er mich ansonsten im Stich lassen würde. Das "Bulldog" wäre ohne den Stoff in meinen Adern von einer Minute auf die andere keine verwunschene Räuberhöhle mehr, sondern ein enges Loch, in dem ich hysterischen Schreikrämpfen ausgesetzt sein würde. So eine Transformation wollte ich nicht riskieren. Also rein in die Kabine, die Rasierklinge gezückt.

Wie von Zauberhand bestellt, lehnte die Bleiche am Eingang zu den Klos. "Da bist du ja endlich", nuschelte sie und klang dabei eher gelangweilt. "Ich warte schon eine Ewigkeit auf dich." Es gab mehr als eine Handvoll Fragen, die ich ihr in diesem Moment gerne gestellt hätte. Doch ich ließ es. Fragen hätten nichts an den Tatsachen geändert. Die waren unverrückbar. "Zu dir oder zu mir", fragte ich sie mit einem Grinsen auf den Lippen und deutete mit dem Daumen nach rechts und nach links. "Bei uns Frauen ist es gemütlicher", lächelte sie vage und nahm meine Linke. Der Druck ihrer Hand war überraschend kräftig. Ich spürte, dass ich schon wieder einen stehen hatte.

Im Mädelsklo war die Hölle los, die Spiegel quollen über vor Fratzen, deren Lippen nachgezogen, Wimpern getuscht und Bäckchen gepudert wurden. Von den Kabinen her quoll dröhnendes Geplätscher nach draußen. Ein Ort des Grauens, an dem ich mich fremd und hilflos fühlte.

Die Bleiche hatte mich nach wie vor in ihrem eisernen Griff. Niemand hier schien uns zu beachten, wie meine hektisch umherflimmernden Blicke feststellten. Die Bleiche drehte sich zu mir um, ehe sie die Tür zu einer freien Kabine öffnete und es gelang ihr ein Lächeln: "Ich heiße Bianca", meinte sie. Ich hatte keine Ahnung, was ich mit dieser Information anfangen sollte. Dennoch nickte ich.

Plötzlich waren wir gefangen von diesem engen Käfig aus Plastik, während sich Biancas feuerrote Lippen auf mein rechtes Ohr drückten, ihre Zunge schnellte brutal in die Muschel, ihr Unterkörper rieb sich fordernd an meinem Harten. Mit wenigen Handgriffen hatte ihre Linke ihn aus seinem Gefängnis befreit und umklammerte ihn heftig. Biancas Atem ging stoßweise in meinem Ohr: "Du hast Gift dabei, jede Menge davon, stimmt's? Na los, pack es aus!".

Ich drückte ihr ein kleines Briefchen mit etwas Pulver in die Hand, das ich noch am Strand vorgehackt hatte, für alle Fälle. Dies war einer davon. Bianca schüttete etwas von dem Zeug auf meine ausgestreckte Hand und zog es ihre Nasenlöcher hoch. Dann schüttete sie eine weitere ordentliche Portion aus und hielt sie mir unter die Nase. Gierig sniffte ich es auf. Den Rest des Tütchens verteilte sie auf meinem Harten, den sie gleich darauf komplett in ihrem Rachen verschwinden ließ. Sie bearbeitete ihn dermaßen geschickt, dass ich gleich darauf in ihrem Mund kam. Kein einziger Tropfen verlief sich auf den glänzenden Kacheln unter uns.

Schließlich tauchte Biancas Kopf nach oben. Das Feuerrot ihrer Lippen war wüst auf dem gesamten schmalen Gesicht verteilt. Es grinste mir bösartig zu. Schon hatte Bianca ihre Zunge in meinen Hals gesteckt. Sie schmeckte bitter und schwammig. Ihre Rechte hielt wieder meinen Schwanz umklammert, der sich erneut zu rekeln begann, wie eine träge Schlange, ehe sie sich auf ihr Opfer stürzt. Ich spürte, wie mein Pint schmerzhaft brannte - von dem Pulver, vor Gier und vor Verlangen nach Biancas Muff.

Ich drehte die Bleiche mit dem Rücken zu mir, postierte ihr rechtes Bein auf dem Klodeckel, während ich mit der freien Hand ihr Kleid hochschob. Natürlich war kein Slip zu sehen. Stattdessen erblickte ich das Weiß von Biancas Hintern, das so bleich wie der Mond schimmerte, so bleich wie der Tod, wenn er es nicht gut mit einem meint. Und dann erblickte ich meinen blank polierten, rot glänzenden Schwanz, der fiebrig pulsierte, sich voller Erwartung gegen die Welt streckte. Ich rammte ihn in Biancas Spalte. Monoton begann ich ihn hin- und her zu stoßen, während ich mich mit beiden Händen an den knochigen Hüften meines Opfers festklammerte. Ich spürte, wie mir bei jedem Stoß das Pulver aus der Nase bröselte, um auf Biancas Arsch zu landen.

Irgendwann kam ich, ziemlich heftig. Ich hatte mit einer solchen Wucht meiner angestauten Gefühle nicht gerechnet. Es schien mir, als würde das Klischee vom kleinen Tod bei jedem Orgasmus diesmal tatsächlich seine Berechtigung haben. Ich war weit, weit draußen in diesem Moment.

Mein Schlaffer plumpste aus Bianca heraus. Sie rollte ihr Kleid wieder runter und wandte mir gleich darauf ihr Gesicht zu. "Gibt's noch Nachschlag von dem Gift?", wollte sie wissen. "Klar", meinte ich. Diesmal zog ich den großen Beutel aus der Tasche meiner Jeans, in dem sich noch gut 20 Gramm von dem Pulver befanden. Bianca leckte sich die Lippen. "Du bist mein Mann", meinte sie. "Das bezweifle ich stark", gab ich zurück.

Diesmal ließen wir uns Zeit mit dem Stoff - wir hackten ihn genüßlich klein auf der Klobrille, rieben uns eine verschwenderische Menge davon aufs Zahnfleisch, zogen dann das bröselige Zeug langsam mit einem knitterfreien Hunderter hoch. "Verkaufst du was von dem Scheiß", wollte Bianca von mir wissen. "Sehe ich aus wie jemand, der seine Seele verkauft", fragte ich sie.

Endlich entriegelten wir die Tür unseres Plastikgrabs. Draußen standen ein paar Schnepfen rum, die uns hämisch angrinsten. Gleich darauf klatschten sie Beifall, während Bianca und ich schauten, dass wir rauskamen. Die Welt hatte mich wieder, mit all ihren Geräuschen, Gerüchen, Geschmacklosigkeiten.

Draußen lümmelte sich Schmierlappen rum. Es wirkte ganz so, als hätte er auf uns gewartet. Vielleicht bildete ich mir das auch nur ein. Ganz egal, jedenfalls war er da. Und kam auf uns zu. Natürlich grinsend.

"Hey, das ist ja eine Überraschung", sagte er. Gleich darauf nahm er Bianca in seine Arme. "Ich hab' dich vermisst, Prinzessin", flüsterte er, laut genug, dass ich es gerade noch verstehen konnte. Ich überlegte, ob er riechen würde, dass mein Saft in ihren Eingeweiden hin- und herschwappte. Bei dem Gedanken mußte ich lachen. Bianca und Schmierlappen - den sie mir als Mario vorgestellt hatte - schauten mich mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an. Was dazu führte, dass ich noch lauter und anhaltender lachen mußte. Ich trottete hinter den beiden her, gelassen und zufrieden.

War das "Bulldog" vor einer halben Stunde ein Ameisenhaufen gewesen, in dem es wild durcheinander wuselte, so war es jetzt zu einem massigen Fleischberg angeschwollen, zusammen geklebt aus Schweiß, Rauch und dumpfer Euphorie. Es schien nirgendwo mehr ein Durchkommen zu geben, dennoch nahmen sich Bianca, Mario und ich bei der Hand, um uns einen Weg an zuckenden Leibern vorbei zu bahnen. Mario und seine Hippies hatten es geschafft, einen Tisch zu ergattern, auf den wir jetzt unsere Ellbogen stützten. Sogar zwei Flaschen Rotwein thronten vor uns, die regelmäßig reihum gingen. Während ich an einer davon saugte, hoffte ich, das Zeug unten bealten zu können. Der Wein in meinem Rachen schmeckte bitter, nach Koks und Sperma. Ich genehmigte mir noch einen großen Schluck, ehe ich die Pulle an meinen Nebenmann weiterreichte.

"Ist 'n prima Laden hier, stimmt's", sagte Mario, während er mich in die Seite knuffte. "Prima, ja", gab ich ihm recht. Gerade hielt ich einen Spliff in der Hand, der ebenfalls die Runde machte. Ich hatte keine Ahnung, wie lange mein Körper den ganzen Irrsinn, den ich ihm an diesem Abend zumutete, mitmachen würde. Nun, ich würde es darauf ankommen lassen.

Bald darauf waren die Flaschen geleert. Die ganze Crew beschloß, dass es für heute nacht genug war mit "Bulldog". "Lass uns abhauen", raunte mir Mario ins Ohr. Ich hatte nichts dagegen. Im Moment war mir alles recht.

Wir quetschten uns wieder durch stinkende Leiber, so lange, bis wir etwas anderes sahen als niedere Holzdecken, bis wir etwas anderes rochen als den säuerlichen Duft nach Verwesung. Himmel. Sterne. Und Luft. Luft, die es wert war, sie bis ganz nach hinten in seine Lungen vordringen zu lassen. Ich atmete einige Male tief durch und steckte mir dann eine Kippe an.

Der VW-Bus hatte ein paar Probleme, ehe er schließlich ansprang. Die Hippies und ich kauerten wieder auf den Matratzen. Jeder lehnte in irgendeiner Ecke und döste vor sich hin. Ich war den Jungs dankbar, dass sie die Schnauze hielten. Mit einem Mal spürte ich, wie kaputt und erschlagen ich war.

Wir fuhren ewig in dem Bus rum, während einer nach dem anderen von den Hippies nach draußen kroch und sich müde verabschiedete. Schließlich waren nur mehr Mario, Bianca und ich übrig. Ich hatte kaum noch eine Chance, die Augen offenzuhalten. Aus den Lautsprechern tönte dezent und einschläfernd Pink Floyds "Meddle". Der richtige Soundtrack zum endgültigen Wegpennen.

"Bianca hat mir erzählt, dass du guten Stoff in der Tasche hast. Schmeißt du 'ne Runde, damit das Erwachen morgen nicht allzu mies ausfällt?", hörte ich Marios Stimme wie durch Watte zu mir durchdringen. "Klar", murmelte ich, "warum nicht?". Der VW-Motor schnurrte gleichmäßig vor sich hin. Ich klappte endgültig meine Glotzer zu.

Jemand rüttelte mich sanft an der Schulter. Es war Mario. "Hey, Alter, wir sind da", hauchte er mir ins Ohr. "Klingt gut", grummelte ich. Was hätte ich sonst groß sagen sollen? Irgendwo ankommen hat immer was für sich.

Ich taumelte von der Matratze hoch und raus aus dem Bus. Draußen sah ich, dass die Sonne sich einmal mehr in meinem Leben dezent blicken ließ. Sie hatte gerade Lust, sich hinter einem gewaltigen Wohnblock ihren Weg nach oben ans Firmament zu bahnen. Nun, um sich dort der Menschheit bemerkbar zu machen, würde sie heute noch einiges zu tun haben.

"Wohnt ihr hier, in diesem Seelenfänger", wollte ich von meinen beiden Begleitern wissen. "Yeah", lachte Mario, "wenn man in diesem Zusammenhang von Wohnen reden kann. Ich denke, Vegetieren ist der passendere Ausdruck für den Aufenthalt in so einem Monster. Wer den Scheiß hier sein Zuhause nennt, für den muß die Hölle ein echtes Paradies sein."

Je näher wir dem Klotz kamen, desto mehr schnürte es mir die Kehle zu. Was aber auch daran liegen konnte, dass mich gerade ein gewaltiger Kater im Würgegriff hielt. Es war der Zustand, wenn Gedanken durch große Löcher im Hirn plumpsen und du zur selben Zeit das Gefühl hast, jedes einzelne Organ in deinem Körper hat nichts anderes zu tun, als sich gegen dich zu verschwören und dir bösartige Schmerzen zuzufügen. Jeder der wenigen Schritte, den ich hin in Richtung Monster machte, kam mir vor wie einer der letzten bei einer Mout Everest-Besteigung. Ich zitterte. Mein Herz gab einen Hochleistungstakt vor. Es war höchste Zeit, dass ich wieder die Rasierklinge zücken konnte.

Im Monster wartete ein Lift darauf, uns in den 11. Stock zu beamen. Es stank nach Pisse und verfaultem Müll. Ich versuchte, die Luft anzuhalten, doch der Aufzug quälte sich so zäh und asthmatisch nach oben, dass ich bereits im vierten Stock meine Bemühungen aufgab.

Bianca musterte mich mit steil nach oben gerichteten Augenbrauen, als wäre ich ein lästiges Insekt, das es abzuklatschen galt oder ein leidlich interessantes Versuchsobjekt in einer Klinik, dessen Leidensgrenze man austesten will. Ich versuchte zur Ablenkung, sie mir in einem weißen Ärztekittel vorzustellen, eigentlich eine todsichere Sache für einen Steifen. Doch ich war dermaßen kaputt, dass nicht mal mehr das wirkte. Murmelnd schickte ich ein Stoßgebet irgendwohin nach oben, damit ich wenigstens den 11. Stock erreichen würde, ohne bleibende Schäden davonzutragen.

Die Bude der beiden war klein, aber voller Fenster und karg genug eingerichtet, dass man keinen klaustrophobischen Anfällen ausgesetzt war. Alles war auf den Boden verlagert, Essen, Schlafen, Zusammenhocken. Mir war es recht. In der Mitte des Wohnzimmers thronte ein niederer, wuchtiger Glastisch, der vollkommen blank geschrubbt war - Erkennungszeichen aller Koksnasen dieser Welt. Schon wieder überfiel mich hinterrücks ein Grinsen.

Ich wühlte den Beutel aus der Tasche meiner Jeans und schüttete eine ordentliche Ration auf den Glastisch. "Ich denke, das sollte reichen, um uns zumindest für diesen Tag bei Laune zu halten", murmelte ich. Es kostete mich einige Anstrengung, das Gift kleinzuhacken, doch ich genoß es. Beinahe wie Meditation. Naja, man konnte sich's wenigstens einreden, mit ein bißchen gutem Willen.

Ich zog sechs fette Linien quer über die Glasplatte. Bianca reichte mir den gerollten, knitterfreien Hunderter rüber. Dazu setzte sie ihr kühlstes Lächeln auf. Ihre Lippen waren wieder perfekt nachgezogen und blinzelten mir in hinterhältigstem Feuerrot zu. Ich spürte eine Gänsehaut auf meinen Armen.

Wir snifften, unbeherrscht und gierig. Jeder von uns sehnte sich nach einem Kick, der ihn in den neuen Tag treiben würde. Sniffen bei Sonnenaufgang ist eine Art Überlebenstraining, wenn man eine exzessive Nacht hinter sich hat. Es geht darum, sich nicht der langweiligen Realität stellen zu müssen.

Als die Glasplatte so blitzeblank wie zuvor war, lehnten wir uns entspannt zurück und warteten auf das kleine Wunder, jeder für sich. Niemand sprach ein Wort, wir setzten auf die heilige Stille des Moments, wenn das Pulver von den Nasenlöchern in den Rachen plumpst. Göttlich, wenn man sich darauf einlässt.

Mein Herzschlag verlangsamte sich zu einem gleichmäßigen Tuckern, während meine Augen die für sie ungewohnte Umgebung bestechend scharf wahrnahmen. Kaltes, reales Glück. Seltenheit in einer Welt, die sich dem flüchtigen, ekstatischen, schlierigen Rausch verschrieben hat.

Wir drei lächelten uns wissend zu. Bald danach verabschiedete sich Bianca von uns, mit der Erklärung, sie wolle schlafen oder meditieren oder nachdenken, am besten alles zusammen. In jedem Falle wollte sie alleine sein, meinte sie. Sie sah bleicher und gefährlicher aus als je zuvor, wie sie sich geschmeidig vom Teppich erhob, um sich auf den Weg ins Nebenzimmer zu machen.

Mario lächelte mir freundlich zu: "Schmeißt du noch 'ne letzte Runde?", fragte er in meine Richtung. "Kein Problem", meinte ich. Mir war klar, dass diese Line mir keine neuen Erkenntnisse bringen würde. Aber das durfte man nicht jedes Mal davon erwarten. Ich machte mich daran, Gift zu hacken.

"Was hat dich eigentlich in unser Kaff verschlagen", wollte Mario wissen. "Nichts bestimmtes", gab ich der Ehrlichkeit halber zurück - ich wußte es wirklich nicht. "Hast du vor, länger hier zu bleiben?" -"Keine Ahnung." -"Ich frage deshalb, weil ich im "Canelupo" noch eine Kraft brauchen könnte. Ich glaube, wenn Bianca mehr Tage wie heute verbringt, klappt sie demnächst zusammen. Darauf will ich es nicht ankommen lassen. Und ich hab' das Gefühl, wir drei verstehen uns schon jetzt gut genug, dass wir den Laden zusammen schmeißen könnten. Na, was denkst du darüber?" -"Ich werd's mir durch den Kopf gehen lassen", murmelte ich. "Heute ist nicht der richtige Zeitpunkt, um Entscheidungen zu fällen." -"Da hast du allerdings recht", lachte Mario, um konzentriert das Gift in die Nase zu ziehen. "Morgen ist auch noch ein Tag." -"In der Tat", sagte ich.

Als ich aufwachte, lag ich auf dem Teppich direkt neben dem Glastisch. Jemand hatte mir ein Kissen unter den Kopf geschoben und eine Decke über die Beine gelegt. Jedes meiner Gelenke war verspannt, jeder Knochen schmerzte und ich war mir nicht sicher, ob ich jemals wieder von diesem Flokati hochkommen würde. Vielleicht verlangte das ja gar niemand von mir.

Mit verklebten Augen blickte ich mich um. Die Wanduhr schräg gegenüber zeigte kurz nach Zwölf. Sie tickte geräuschvoll. Ich war also noch am Leben. Der Beutel in meiner Jeanstasche war ebenfalls noch da. Es konnte weitergehen.

Das Zimmer, in dem ich mich aufhielt, war leer. Dafür hörte ich Geräusche von nebenan. Schien, dass Bianca und Mario am Ackern waren. Ihre Hechellaute klangen unwirklich in dieser Umgebung, zu dieser Tageszeit. Doch meine kleine, von mir selbst aufrechterhaltene Welt war eh reichlich aus den Fugen geraten.

Unter Aufbietung sämtlicher Kraftreserven wuchtete ich mich vom Boden hoch und machte die wenigen Schritte hin zum größten der zahlreichen Fenster in dieser Bude. Ich glotzte raus, stumpf und emotionslos. Die Sonne hatte sich ganz oben am Firmament des Himmels eingenistet. Unmittelbar unter ihr all diese Hochhäuser, eine ganze Armada. Ich schaute mir das an. Lange. Und dann machte ich mich auf den Weg nach draußen, raus aus dieser Wohnung. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich wollte. Ich wußte lediglich, dass ich hier nicht bleiben konnte.

Gegen Acht am Abend tauchte ich wieder im "Canelupo" auf. Weil ich den Rest des Tages über nichts geschnupft und stattdessen die meiste Zeit vor mich hingedöst hatte, brummte es in meinem Schödel fies und unnachgiebig. Trotzdem hatte ich mir vorgenommen, heute kein Gift anzurühren. Ich würde den Kater mit ordentlich Wein austreiben.

Das "Canelupo" war leer bis auf Bianca und Mario, die beide hinter dem Tresen standen und Gläser polierten. "Hallo", grinste Mario mir aufmunternd zu. Bianca schenkte mir lediglich ein vages, stummes Lächeln. "Hallo", meinte ich mit einem Kopfnicken in Marios Richtung, "ich hab' über dein Angebot nachgedacht. Wenn es noch gilt, würde ich mich zu euch ins Boot setzen." -"Natürlich", sagte Mario, "jede helfende Hand ist erwünscht. Wir sollten uns lediglich über die Formalitäten klar werden." -"So wenige davon wie möglich", knurrte ich. "Ganz in meinem Sinne", lachte Mario. "Sind 20 Euro die Stunde okay?" "10 Euro die Stunde", sagte ich, "wenn dafür Essen und Drinks frei sind." -"Geht in Ordnung", grinste Mario, "auch wenn ich dabei wahrscheinlich ein verdammtes Minus-Geschäft mache."

Ich hatte einen Job. Den ersten seit langem. Keine Ahnung, was ich davon halten sollte. Ich beschloß, damit zufrieden zu sein. "Allerdings fange ich erst morgen zu arbeiten an", warnte ich Mario, "heute werde ich nur trinken und mich von der gestrigen Nacht erholen. Chef, eine Karaffe vom besten Wein in eurem Laden, bitte! Ich geb' 'ne Runde aus."

Zwei Karaffen und zwei Stunden später war der Laden beinahe voll wie am Tag zuvor. Den ganzen Abend verbrachte ich auf meinem Hocker an der Bar, auf dem ich festgemeißelt zu sein schien, ich beobachtete gelangweilt die Menschen und kippte Wein in mich rein, ohne davon sonderlich betrunken zu werden. Ich hätte ewig da sitzen können, solange mein Glas gefüllt war und mich keiner von den Gästen belästigte.

Gegen Elf fragte Bianca, ob ich mit ihr aufs Klo verschwinden würde. "Warum", wollte ich wissen. "Warum nicht", gab sie zurück. "Ja, warum eigentlich nicht", murmelte ich in ihre Richtung, ohne sie dabei anzusehen. Ich war froh, dass in meinen Blutbahnen jede Menge Alkohol schwamm. Nüchtern wäre ich garantiert auf meinem Stuhl kleben geblieben.

Ich trottete hinter Bianca her, ihren Arsch im Visier. Wir verbarrikadierten uns in einer Kabine im Mädelsklo. Ich putzte die Klobrille mit einem Papiertuch blank, kippte danach das wenige Puver, das ich extra zuhause gehackt hatte, aus und zog davon gelangweilt vier schmale Lines. "Mehr is' nicht für heute", sagte ich zu Bianca, "nur damit du's weißt." -"Soll ich dir einen lutschen", fragte sie mich. "Ich hab' kein Problem damit", antwortete ich.

Zunächst zogen wir das Gift in unsere Nasen hoch. Es kam nach wie vor gut, obwohl mein Körper kein sonderliches Interesse daran zeigte, hochgepusht zu werden. Naja, er würde mir auch das verzeihen. Wie so vieles.

Bianca machte sich an den Knöpfen meiner Jeans zu schaffen. Dann holte sie meinen Kleinen raus. Zu meiner eigenen Überraschung stand er. "Der Kerl ist groß", sagte sie. "Ich würde behaupten, er ist höflich und macht dir seine Aufwartung." -"Nett von ihm", grinste sie, ehe sie das Ding komplett in ihrem Mund verschwinden ließ. Ich war ziemlich schnell fertig. Ich war froh darüber.

Wir gingen zurück in die Kneipe. Am Tresen hatten sich eine Menge Bestellzettel angesammelt. Also verbarrikadierte ich mich gemeinsam mit Bianca an der Bar und zapfte Biere. "Danke", flüsterte sie und hauchte mir einen Kuss auf die Wange. "Ich danke dir", meinte ich und wandte mich wieder der Zapfanlage zu. Wir schufteten stoisch bis drei Uhr morgens, ohne dabei ein einziges Wort zu verlieren. Lediglich Mario unterbrach gelegentlich das Schweigen, mit einem schalen Witz oder aufmunternden Worten.

Als der letzte Gast aus der Kneipe wankte, schloß ich mich ihm an. "Bis morgen", murmelte ich in Richtung Bianca und Mario, "ist es okay, wenn ich um Sieben hier aufkreuze?" -"Sieben Uhr ist perfekt", sagte Mario. Er stand hinter dem Tresen und polierte schon wieder die Gläser. Ich sah, dass er gelegentlich eine Hand an Biancas Arsch führte. Doch das war nicht mein Problem.

Ich war nun jeden Abend, jede Nacht, in dieser verschissenen Kneipe, zapfte Bier, schenkte Weinkaraffen voll, polierte Gläser. Bianca und Mario hatten keinen freien Tag in ihrem Terminkalender vorgesehen. Ihr Plan war, das "Canelupo" in den nächsten zwei Jahren zum Laufen zu bringen, daraus eine Institution zu machen, um es dann zu einem guten Preis wieder abzustoßen. "Und dann - ab nach Bali oder Indien", sagte Mario immer, wenn man ihn auf die Zukunft ansprach. "Irgendwo an einen Ort, an dem die Sonne ständig scheint und die Leute dich in Ruhe lassen." Bianca äußerte sich nie über ihre Zukunftsaussichten.

Innerhalb der nächsten zehn Tage war eingetreten, was ich in meinen schlimmsten Träumen befürchtet hatte - mein Pulver war komplett aufgebraucht. Zwar hatte ich untertags das Zeug in Ruhe gelassen, soweit hatte ich mich in den Griff bekommen. Doch abends verschwanden Bianca und ich regelmäßig in einer der Toilettenkabinen, wir zogen das Gift hoch, um danach heftig zu ficken. Ich kam mir inzwischen vor wie ein Laienschauspieler, der jede Nacht dasselbe miese Programm abspult. Darauf verzichten wollte ich allerdings keinesfalls.

Die Bleiche und ich redeten nie über unsere Aktionen auf dem Scheißhaus. Wir snifften, bumsten und wandten uns danach wieder der Arbeit zu. Aber wir verloren kein Wort darüber. Auch hatten wir keine Ahnung, ob Mario von der Sache Wind bekam. Es war uns egal. Zu Mario war ich insofern nett, dass ich ihm jede Nacht gegen Drei, ehe wir den Laden dichtmachten, einige fette Lines ausgab, während er mir ein paar Scheine für den Job rüber schob. Nachdem all das erledigt war, ging jeder von uns seiner Wege - ich zu Fuß und alleine die zehn Minuten Marsch zu meiner Bude, Mario und Bianca Arm in Arm zum VW-Bus, der stets unmittelbar vor dem "Canelupo" geparkt war.

Am zehnten Tag tauchte ich bereits gegen Sechs bei der Kneipe auf. Mario und Bianca fuhren gerade mit dem Bus vor. "Hey", meinte Mario, "heute bist du aber früh dran. Willst dir wohl 'nen Zehner extra verdienen, was?", feixte er. "Mein Pulver ist alle", meinte ich trocken, während Bianca die Tür des "Canelupo" aufschloß. "Und ich kenne keine Menschenseele in diesem Kaff, die mir neuen Stoff besorgen könnte."

Mario schob mich ins Innere des Ladens und richtete sich in ganzer Größe vor mir auf. "Mach' dir keine Sorgen deshalb", sagte er. "Ich werd' was auftreiben. Du hast uns lange genug ausgehalten. Jetzt ist die Reihe an mir." "Ich bin mit 'nem Tausender dabei", räusperte ich mich. "Alles klar", sagte Mario. "Das Finanzielle kriegen wir schon in den Griff - kein Problem, Alter!"

Und in der Tat, Mario stellte noch in derselben Nacht einen fetten Beutel mit Pulver auf den Tresen, gegen Drei, nachdem der letzte Gast die Kneipe verlassen hatte. Ich tippte beim Inhalt des Beutels auf mindestens 30 Gramm. "Das hier ist klasse Stoff", sagte Mario und tippte auf den Plastiksack, "wir sollten ihn auf der Stelle testen und 'ne kleine Privatparty feiern, was denkt ihr?" Bianca und ich nickten. Yeah, das war 'ne großartige Idee! Party zu dritt, mitten unter der Woche. Wer konnte sich schon so viel Freiheit erlauben, in diesem formatlosen formatierten Leben? Hey, wir waren cool...

Mario schüttete eine Handvoll Pulver auf den Tresen und hackte das Zeug nur notdürftig klein. "Das sind Kristalle", schwärmte er, "wenn du die pur in die Schleimhäute kriegst, halten sie dich etliche Stunden wach. Wahnsinn, was für ein Stoff!" Wir schnappten uns Cocktailstrohhalme und snifften wild drauflos, ohne Rücksicht auf die Menge. Eine echte Party, in der Tat!

Das Gift war noch eine Ecke wüster als mein Stoff, es schien die direkte Leitung zum Hirn zu kennen, ohne Umleitung in geschätzten sieben Sekunden. Na ja, vielleicht acht. Es kribbelte mich am ganzen Schädel, das Blut wurde auf Zack gebracht und schlug Saltos in seinen engen Bahnen. Was für ein Kick!

Bianca nahm sich eine dicke Portion, dann sprang sie auf einen der Barhocker und schlenkerte die Hüften, sandte Mario und mir eiskalte, lüsterne Blicke rüber, während sie, auf der Stelle tänzelnd, an ihrem Kleid rumfingerte, das sie schließlich mit einem Ruck über die Hüfte zog, dann über ihren Kopf. Sie war splitternackt. "Wow, ist das Leben geil", kreischte sie verzückt.

Mario grinste mir zu und klopfte mir freundschaftlich auf die Schultern. "Was für eine scharfe Alte, meine Bianca, was?", wollte er wissen. "Ja ja", stotterte ich nur, unfähig, meinen Blick von diesem Körper abzuwenden, diesem Hintern, so bleich wie der Mond, wie der Tod, wenn er es nicht gut mit einem meint. Und Bianca schien nicht die Absicht zu haben, ihre Show rasch zu beenden.

"Wollt ihr nicht mal anfassen, Jungs", brüllte sie in unsere Richtung. "Is' alles echt an mir. Ach, ich hab' Lust, heute mit der ganzen Welt zu ficken." Und wieder neigte sie ihren Kopf weit nach unten, um sich eine geballte Ladung Gift in die Nase zu pumpen.

Mario trippelte auf sie zu, umfasste ihren Hintern mit beiden Händen und drückte sein Gesicht auf ihren Unterleib. Er lachte dröhnend. "Ah, wie ich dich liebe, kleine Hexe, wie ich dich liebe", brüllte er. Plötzlich hob er Bianca, die sich kreischend wehrte und spielerisch auf seinen Rücken eintrommelte, von dem Hocker und trug sie rüber zum Tresen. Dort legte er sich ihren Körper so zurecht, dass er ihre Spalte direkt vor seiner Nase hatte und machte sich wie ein Gourmet, der eine Delikatesse kostet, dran, diese Spezialität ausgiebig zu lecken.

Ich stand da, wo ich seit einer Ewigkeit zu stehen schien, unfähig, mich zu bewegen und keine Ahnung, wie ich mich in dieser Situation verhalten sollte. Schließlich tauchte Marios Kopf aus dem Gestrüpp zwischen Biancas Schenkeln auf und schrie zu mir rüber: "Nun komm schon, Alter, und hilf mir, diese Lady ordentlich zu befriedigen."

Ich schwebte wie in Trance in Richtung der beiden. Keine Frage, dass ich vorher noch den Strohhalm in Anschlag brachte und in dem Gifthäufchen versenkte. Und dann stand ich vor Bianca, die sich an den Knöpfen meiner Hose zu schaffen machte, bis ihr mein Steifer entgegenplumpste. Sie schob ihn ganz in ihren Rachen, das kannte ich ja schon, während Mario weiterhin ihre Möse mit der Zunge bearbeitete. Ich ließ all diesen Irrsinn über mich ergehen und kam mir vor wie der Beobachter eines plumpen Sexstreifens. Gerne hätte ich mir eingeredet, dass ich nie mehr in meiner beschissenen Existenz abspritzen würde. Doch dafür machte Bianca ihren Job einfach zu gut.

"Du oder ich, wer nimmt sich dieses Luder als erster vor", fragte Mario mich und stand in ganzer Lebensgröße vor mir. "Tu dir keinen Zwang an", murmelte ich, um dabei auf Bianca runter zu glotzen, die nach wie vor meinen Schwanz in ihrem Mund verbarrikadiert hielt.

Marios Rechte traf mich wie ein Geschoß und vor allem völlig unvorbereitet. Ich ging auf der Stelle zu Boden, reichlich benommen. "Scheisse", hörte ich Bianca kreischen und beobachtete, wie sie sich ruckartig aufrichtete, "was soll denn der Blödsinn?". Ehe ich richtig mitkriegte, was tatsächlich passierte, hatte Bianca sich wieder ihr Kleid über den Kopf gestülpt, die Tür der Kneipe entriegelt, war nach draußen gehuscht. Sie war weg. Einfach weg.

Mario kauerte am Boden, den Kopf auf seine beiden Hände gestützt. "Tut mir leid, tut mir leid", murmelte er pausenlos vor sich hin, wie ein Mantra, das ihm keinerlei Erlösung bringen würde. Ich rappelte mich vom Boden hoch und wankte auf ihn zu, kniete mich zu ihm nieder, legte ihm einen Arm linkisch um die Schultern. "Is' ja gut, is' ja gut", redete ich beruhigend auf ihn ein. Ich spürte, wie Marios Körper von Weinkrämpfen geschüttelt wurde.

"Nichts ist gut", brüllte er und schüttelte meinen Arm dabei ab. Zitternd erhob er sich vom Boden, wackelte rüber zum Tresen und steckte die Nase in den Gifthaufen. Ich blieb sitzen, wo ich war. Nach einer endlos erscheinenden Weile, in der keiner von uns ein Wort sprach, wandte Mario sich mir zu: "Aber ich liebe sie doch", stammelte er, mehr zu sich selbst als zu mir. "Ich liebe sie, seit ich sie das erste Mal gesehen habe. Und glaub' mir, Alter, das ist schon 'ne verdammt lange Weile her."

Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte. Wahrscheinlich war es am besten, die Schnauze zu halten. Und das tat ich auch. Ich wartete, was als nächstes passieren würde. Inzwischen war ich auf alles gefasst. Das machte die Sache wesentlich einfacher für mich.

Mario kauerte sich an einen der Tische. Er sah unendlich klein und sehr müde aus. "Komm rüber zu mir, wenn du Lust dazu hast", murmelte er. "Und nimm dir zuvor noch einen ordentlichen Sniff." Das machte ich, um mich danach ihm schräg gegenüber zu setzen.

"Du hast sie jeden Tag gefickt, stimmt's?", wollte er wissen. Mario sah nicht so aus, als würde er mir nochmals eine verpassen wollen, wenn ich seine Frage bestätigte. Dennoch gab ich lieber keine Antwort. Was hätte es gebracht, wenn ich "Ja" gesagt hätte? Dieses "Ja" hätte mit der Wahrheit nicht viel zu tun gehabt. Es gab nicht die endgültige Wahrheit. Schon gar nicht in diesem Fall.

Mario schien eh keine Antwort von mir zu erwarten. "Bianca und ich, wir haben immer miteinander gespielt", fing er mit einem Mal zu erzählen an. "Und dabei haben wir uns eingeredet, dass wir uns unsterblich lieben. Doch wer es ernst meint mit der Liebe, der darf mit ihr nicht spielen. Der muß ständig am anderen dran sein, darf ihn nie aus den Augen verlieren. Das ist das ganze Geheimnis der Liebe. Lös' dich selbst auf und werd' der andere. Nichts sonst zählt."

"Du redest Quatsch", hörte ich mich sagen. "Tatsache ist, dass wir keine Ahnung von den Weibern haben. Wir wollen sie ficken und uns ihnen dabei überlegen fühlen. Obwohl wir uns immer nur lediglich selbst ficken. Männer sind nie jemandem überlegen, schon gar nicht den Frauen. Wir sind selbstgefällige Wichser, nichts weiter. Wenn du mal auf diese Erkenntnis gestoßen bist, hast du das Leben durchschaut. Dann hast du mitgekriegt, dass diese Sache mit der Liebe vollkommener Unsinn ist. Wir sind nicht auf diesem Planeten, um andere zu lieben. Wir lieben ja nicht mal uns selbst."

Und mit diesen Worten wandte ich mich wieder dem Gift zu und zog eine gewaltige Portion davon die Schleimhäute hoch. Ich hatte mich selten besser dabei gefühlt. Es war eine Art komplett schwachsinniger Befreiungsschlag, der blendend zu meiner Existenz passte. Ständige Betäubung und die falsche Illusion vom Glück, das waren ihre Grundpfeiler. Mehr war für mich nicht drin. Mehr interessierte mich nicht.

Und mit einem Mal hatte ich keine Lust mehr, in dieser Kneipe zu sitzen, mit Mario triste Gedanken über die Liebe auszutauschen und auf Bianca zu warten - wenn sie überhaupt wieder zurückkommen würde. Es war reine Selbsttäuschung, zu glauben, dass man irgendwas im Leben beeinflussen konnte. Wenn man sich auf diese Idee einließ, hatte man in erster Linie Ärger am Hals. Wer hingegen dem Tod gelassen ins Auge blicken wollte, der mußte sich gelassen durchs Leben treiben lassen.

Ich marschierte also aus dem "Canelupo", ohne mit Mario nochmals Blickkontakt herzustellen, ohne ein letztes Wort an ihn zu richten. Nur eine ordentliche Ration von dem Gift packte ich mir ab, für alle Fälle. Ich verließ mich niemals so sehr auf mein Schicksal, dass ich ihm nüchtern entgegen treten wollte. So gut war das Schicksal nämlich selten zu mir, dass ich es darauf ankommen lassen durfte. Es war entscheidend, immer auf der Hut zu sein.

Ich hielt es genau zehn Abende durch, nicht im "Canelupo" vorbeizuschauen. In der Zwischenzeit machte ich eine Menge Dinge, die ich für notwendig hielt: Nicht öfter als eine Line am Tag zu sniffen etwa; mein Apartement auf Vordermann zu bringen; mindestens zehn Stunden am Tag zu schlafen; und in der Tat fing ich mit einem Romanentwurf an - irgendwelchen Quatsch über die Unmöglichkeit der Liebe und wie man bei dem Versuch, sich auf jemand anderen einzulassen, jämmerlich baden geht. Das alte Lied. Ich hatte es zu oft gesungen. Ich wollte möglichst schnell den Text davon vergessen.

Jeden Abend, egal bei welchem Wetter, spazierte ich die endlose Strecke zum Meer runter und rauchte dort unzählige Kippen, während ich in einem Liegestuhl kauerte und den Wellen beim Plappern zuhörte. Der Tod hätte in diesen Momenten ohne Probleme vorbei schauen können, ich hätte ihn freundlich begrüßt und ihm auf die Schultern geklopft. Es gab nichts mehr für mich zu tun. Aber ich hatte kein Problem damit, einfach weiterzumachen. Am Leben zu bleiben.

Schließlich fühlte ich mich stark genug, um wieder im "Canelupo" vorbeizustiefeln. Ich war auf alles gefasst. Nichts würde mich umwerfen. Ich wollte einfach nur sehen, was in meiner Abwesenheit passiert, wie diese Geschichte, mit der ich mal zu tun gehabt hatte, weiter gegangen war. Das war's.

Es war gegen Zehn, als ich ins "Canelupo" reinschneite. Nur wenige Gäste hingen vereinzelt an Tischen rum. Im Hintergrund liefen dezent alte Gassenhauer von den Rolling Stones. "Satisfaction" und so, dieser Scheiß, Jahrtausende alt und längst nicht mehr wichtig. Mir kam es vor, als hätte irgendjemand das Licht in der Kneipe gedimmt. Aber das war vermutlich Einbildung.

Mario trat an meinen Tisch und knallte eine Karaffe vor mich hin. "Geht auf Kosten des Hauses", presste er zwischen den Zähnen durch. "Trink sie aus und danach verschwinde von hier. Okay?" -"Okay", meinte ich nur und schenkte mir ein Glas voll. Ich ließ mir Zeit mit dem Austrinken. Ich hatte nichts zu tun an diesem Abend. Das beste Gefühl der Welt. Die Bleiche war nirgends zu sehen.

Am nächsten Morgen stand ich früh auf, vor sechs Uhr, und machte mich fertig für die Reise. Ich hackte den Rest von dem Gift klein. Dann starrte ich es lange an, um es schließlich ins Klo zu spülen. Der Kater heute Abend würde fürchterlich sein. Ich brachte die Bude nochmals auf Vordermann, putzte sie blitzeblank. Schließlich packte ich meine wenigen Habseligkeiten in einen Koffer. Ganz obenauf legte ich die wenigen Seiten meines Manuskripts. Mal schauen, wie weit ich damit kommen würde.

Gegen Acht war ich fertig mit allem, trottete die wenigen Schritte rüber zum Haus meiner Vermieterin, um dort die Appartementschlüssel abzugeben und den Rest der Miete zu bezahlen. Ich wollte keinen Ärger. Und es sollte keinen Anlass geben, dass sich jemand an meine Existenz in diesem Kaff erinnerte.

Zum Bahnhof hatte ich es nicht weit, höchstens zehn Minuten zu Fuß. Dennoch stellte ich mich auf die Straße und hielt ein Taxi an, um mich dorthin chauffieren zu lassen. Als ich aus dem Fenster der Karre blickte, wirkte der Ort wie ausgestorben. Irgendwie surreal und noch verlassener, als er eh schon war. Aber auch friedlich. Gespenstisch friedlich. Ich würde das Kaff nicht vermissen.

Schließlich kamen wir am Bahnhof an. Ich investierte meine letzten Euro in ein Zugticket und eine große Flasche Wein für die Reise. Ich würde sie brauchen, mein Trip in den Norden würde lange dauern, bestimmt zehn Stunden, vielleicht länger. Sicherheitshalber entkorkte ich schon mal die Pulle und genehmigte mir einen Schluck, während ich an den Geleisen auf einer Bank hockte. Ich war der einzige Fahrgast an diesem sonnigen Herbstmorgen, der einzige Mensch, der in diesem Ort auf einen Zug wartete.

Endlich trudelte der Zug ein. Ich stieg auf und sicherte mir einen Fensterplatz. Die Maschine ließ es gemächlich angehen, wir tuckerten ganz langsam aus dem Ort raus. Ich hatte nochmals Zeit, mir alles genau anzuglotzen. Und plötzlich sah ich sie, wie eine Vision, wie ein Zerrbild der Wirklichkeit: Mario und Bianca, Arm in Arm und eng umschlungen, die auf einer Wiese spazieren gingen, völlig in sich versunken. Sie sahen sehr glücklich und miteinander vertraut aus. Gerade in dem Moment, als der Zug an ihnen vorbeiwackelte, blickten sie hoch. Wir starrten einander in die Augen. Und dann winkten sie beide freundlich lächelnd, wie zum Abschied. Aber natürlich kann ich mir das auch eingebildet haben. Der Zug fuhr weiter, vorbei an Mario und Bianca. Ich schaute nicht mehr zurück. Es war Zeit für einen neuen Schluck aus der Flasche.

 

 

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VERKEHRSPROBLEME

... Wesentlich interessanter war da schon Lucie, 22, aus das-möchtest-du-gerne-wissen, die in ihre Tastatur hackte: „Mal deine Brille probiert... coooool ... darf ich die behalten? Ich tanze dir dafür was vor!“. Tja, Lucie, warum nicht? Und dann meldete sich schließlich noch Judith, 34, aus Deutschland, die meinte: „Hi, Michael, diese Antwort ist eine Spontanaktion – irgendwie gefällst du mir und außerdem kenne ich dein Lieblingsbuch „Betty Blue“ gar nicht, doch das würde mich interessieren. Schreib mal, wenn es geht.“
All diese Mails landeten innerhalb einer Woche bei mir und ich dachte insgeheim: „Wow, Internet, vielleicht bist du ja in der Tat eine moderne Göttin, die ich bislang gnadenlos unterschätzt habe! Vielleicht schaffst du es trotz deiner
kalten Art, dich zu präsentieren, aus uns Usern glückliche Menschen zu machen, die via Computer wieder mehr miteinander kommunizieren!“ Ich beschloss, allen meinen Interessenten (bis auf Markus) zurückzuschreiben. Wer auf eine kuriose Annonce wie die meine reagiert, dachte ich beinahe mit Ehrfurcht, hat es auch verdient, eine Antwort zu bekommen. Ich schrieb so, wie ich bislang Briefe geschrieben hatte: ausführlich und emotional und voller Leidenschaft. Zu spät erfuhr ich, dass es darauf bei Internet-Kontaktanzeigen gar nicht ankommt. Dass Menschen, die sich auf diese Form der Kontaktaufnahme einlassen, nicht besonders wild auf Schreiben bzw. dazu nicht unbedingt in der Lage sind, sondern in erster Linie ihrer ureigenen Obsession nachgehen, in zweiter (und mindestens genauso bedeutender) Absicht versuchen, ihre Einsamkeit zu kompensieren. Brieffreundschaften und Kontaktanzeigen, das besaß in der Prä-Internet-Ära den Hauch des Geheimnisvollen und Langwierigen. Selbst wenn man sich jahrelang Botschaften zukommen ließ und sich nie zu Gesicht bekommen hat, war es damals eine Form von Abenteuer, sich auf einen Menschen einzulassen, den man nicht kannte und von dem man dennoch jede Menge Intimes erfahren konnte.
Bei virtuellen Beziehungen allerdings geht es, gerade wegen ihrer Anonymität, blitzschnell ans Eingemachte. Man trifft sich. Möglichst rasch. Und hofft bei diesen Treffen auf die spontane Erfüllung all seiner Begierden. Zumindest durchlitt ich diese Erfahrung. Vielleicht deshalb, weil ich mich bei „Deutschlands erstem Internet-Kaufhaus“ unter der Rubrik „Getrennt/Geschieden“ hatte registrieren lassen. Call it: „Auslaufmodell“ in Zeiten von Jugendwahn und der Sucht nach der ewigen Frische. Sexuell Kranke und emotional Geschädigte aller Länder, vereinigt euch! Am besten
unter meiner neu eingerichteten E-Mail-Adresse...
Ich antwortete allen vier virtuellen Neuankömmlingen in meinem Leben am selben Abend in einer langen Mail-Schreib-Session. Tine, die nicht male sein wollte, sondern auf ihre Weiblichkeit pochte, antwortete mir als Erste, noch in der selben Nacht. „Du bist mein Dreamman“, meinte sie in diesem merkwürdigen Slang aus schlechtem Deutsch und noch schlechterem Englisch, „ich hatte eine vision from you, gleich nachdem ich dein picture sah.“ Ich fühlte mich verwirrt, aber auch geschmeichelt – eine schlechte Kombination in diesem Falle, denn ich beging den Kardinalfehler, bei meiner nächsten Mail gutgläubig meine Telefonnummer anzugeben. Tine meldete sich knapp zehn Minuten, nachdem ich ihr meine Antwort hatte zukommen lassen. Wir plauderten drei Stunden, in denen ich mehr und mehr paranoid wurde und tatsächlich irgendwann glaubte, ich werde langsam aber todsicher verrückt. Tine umklammerte von Minute zu Minute unseres Telefonats heftiger mein Herz, meine Seele, mein komplettes Denken und trieb mich willenlos in ihre entrückte kleine Welt, in der nur noch sie und ich vorkamen und niemand sonst.
Tine war felsenfest davon überzeugt (und flüsterte mir diese Erkenntnis in einer merkwürdigen Mixtur aus ordinärem Berlinerisch und grässlichem Englisch ins Ohr), dass wir beide „kosmisch, you know, darling“ füreinander bestimmt wären. Tja, warum auch nicht, wenn man sich schon über eine kosmische Institution wie das Internet kennen gelernt hat, oder, baby?! Jedenfalls spürte ich, wie ich tiefer und tiefer in Tines krankes Netz der Obsession gezogen wurde, offenen Auges und Ohres, sich der Tatsache bewusst, dass es kein Entrinnen mehr aus dieser Falle gab. Das Lamm war bereit für seine bevorstehende Opferung. Profaner gesagt, war ich mit der Situation einfach überfordert. Da hatte ich einen Geistesblitz: „Was arbeitest du eigentlich so?“, stellte ich ihr eine reichlich banale Frage. Zu banal offensichtlich für Tines ganz und gar nicht banale Welt. „Mann, bist du ein Spießer“, blaffte sie mich an, legte den Hörer auf und hat sich bis heute nicht mehr bei mir gemeldet. Ich kann mich nicht erinnern, je unglücklich über diesen Verlust gewesen zu sein.
Als nächste meldete sich „Judith, 34, aus Deutschland“ bei mir. Wie sich bald darauf herausstellen sollte, wohnte Judith in derselben Stadt wie ich, ungefähr zehn Fahrrad-minuten entfernt von meiner Bude. Judith und ich tauschten fünf Mails miteinander aus, die so heiter und nett wie nichtssagend waren – ich weiß bis heute nicht, was Judith eigentlich für ein Mensch ist. Ich weiß nur, dass ich ihr meinen Lieblingsroman, den sie noch nicht kannte – Philippe Djians „Betty Blue“ – per Kurier zukommen ließ, nachdem klar wurde, dass sie ganz in meiner Nähe zu Hause war. Auch ein Fehler im Nachhinein, denn in „Betty Blue“ dreht sich alles um die obsessive, vorbehaltlose Beziehung einer jungen Frau zu einem verkappten Schriftsteller, die dessen Werk für einen durchgehenden Geniestreich hält, während der Rest der Welt, inklusive dem Schreiber selbst, seiner Arbeit nichts abgewinnen kann. Mir gefiel bis zum Kennenlernen von Judith die Idee davon, eine Betty Blue an meiner Seite zu wissen.
Wie sich im Falle von Judith herausstellen sollte, gefiel mir der reale Beweis einer solchen Frau und Beziehung aber ganz und gar nicht. Judith hatte Djians Bestseller nach wenigen Tagen verschlungen und meldete sich nun via Mail bei mir mit einer „Danksagung für eine große Bereicherung in meinem Leben“ sowie der Ankündigung, mich im Gegenzug für mein Geschenk zum Essen einzuladen. Wir trafen uns in einem Restaurant bei mir um die Ecke, Judith war zwar nicht die „knackige Blondine mit der mystisch-verwegenen Ausstrahlung“, als die sie sich mir vorgestellt hatte, denn sie hatte versucht, jene Ausstrahlung mit viel zu viel Make-Up hinzubekommen – reichlich erfolglos. Dennoch, Judith war eine angenehme Person, mit der man mehr oder weniger belanglose Anekdoten austauschen konnte, ohne dabei über einen verlorenen Abend nachgrübeln zu müssen. Verloren wurde der Abend für mich erst, als ich im Restaurant das berühmte Glas Wein zu viel getrunken hatte und in meiner dadurch bedingten Euphorie Judith das Angebot machte, ein weiteres Glas zu viel bei mir in der Bude zu vernichten. Meine Mail-Bekanntschaft ließ sich auf der Stelle darauf ein und versuchte dabei, ihrem Lächeln die von ihr beschworene „mystisch-verwegene Ausstrahlung“ zu geben. In meinem Zustand nahm ich ihr diese Ausstrahlung sogar ab.
Als Judith den Fuß über die Schwelle meines bescheidenen Apartments gesetzt hatte, war allerdings von Wein nicht mehr die Rede. Äußerst uncharmant meinte sie trocken zu mir: „Du willst ficken, ich will gefickt werden, also worauf warten wir noch?“. Ich war mir nicht sicher, ob ich mit Judith tatsächlich ficken wollte. Gleichzeitig waren das klare Worte, die man speziell aus dem Mund einer Frau selten zu hören bekommt, also dachte ich, ganz verkorkster Gentleman mit zu viel Wein in der Birne, dass ich so ein Angebot nicht ausschlagen sollte. Das verbot mir sozusagen die Höflichkeit. Es kam mir verdammt schnell vor, nackt zu sein, beinahe genauso schnell lagen Judith und ich auf meinem Futon vereint im Clinch. Aber bereits nach wenigen Minuten packte Judith aus ihrer neben dem Bett liegenden Tasche ein Paar massiv wirkende Handschellen aus. „Ich bin deine Betty“, hauchte sie mir bemüht lasziv ins Ohr, „und jetzt besorg es mir so richtig hart!“.
Man nenne mich Spießer oder sexuellen Kleingeist,
vielleicht war das letzte Glas Wein auch wirklich das legendäre Glas zu viel – jedenfalls kam ich weder mit dem Schlüssel an den Handschellen klar noch mit der Situation als solcher. Mein kleiner Freund blieb entsprechend klein, weil er sich völlig überfordert fühlte und irgendwann bekam ich zu meiner Schande auch noch einen hysterischen Lachkrampf. Judith allerdings war gar nicht zum Lachen zumute. „Scheiße, was bist du denn für ein dämlicher Wichser“, blaffte sie mich an. „Ich dachte, auf Grund meiner Mail war klar, dass ich auf Sado/Maso stehe.“ Mir war gar nichts klar gewesen, aber vielleicht lag es auch an meiner kompletten Unfähigkeit, zwischen den vermeintlich harmlosen Zeilen von Internet-Botschaften zu lesen. Judith jedenfalls packte wütend vor sich hin grummelnd und laut klappernd ihre Handschellen wieder ein, zog sich schneller an als sie sich ausgezogen hatte, um sich fortan für immer aus meinem Leben zu verabschieden...

 

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